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[Tagebuch, 18. Oktober 1916; Mittwoch]

18. (Oktober 1916) Aus einem Brief:

Es ist nicht so einfach, dass ich das was Du über Mutter, Eltern, Blumen, Neujahr und Tischgesellschaft sagst einfach hinnehmen könnte. Du sagst, dass es auch für Dich "nicht zu den größten Annehmlichkeiten gehören wird, bei Dir zuhause mit Deiner ganzen Familie am Tisch zu sitzen". Du sagst damit natürlich nur Deine Meinung ganz richtiger Weise ohne Rücksicht darauf ob es mir Freude macht oder nicht. Nun es macht mir nicht Freude. Aber es würde mir gewiß noch viel weniger Freude machen, wenn Du das Gegenteil dessen geschrieben hättest. Bitte, sag mir so klar als es möglich ist, worin wird diese Unannehmlichkeit für Dich bestehn und worin siehst Du ihre Gründe? Wir haben ja, soweit ich in Frage komme, schon oft über die Sache gesprochen, aber es ist schwer hier das Richtige nur ein wenig zu fassen. In Schlagworten - und deshalb mit einer der Wahrheit nicht ganz entsprechenden Härte - kann ich meine Stellung etwa so umschreiben: Ich der ich meistens unselbständig war, habe ein unendliches Verlangen nach Selbständigkeit Unabhängigkeit, Freiheit nach allen Seiten, lieber Scheuklappen anziehn und meinen Weg bis zum Äußersten gehn, als dass sich das heimatliche Rudel um mich dreht und mir den Blick zerstreut. Deshalb wird jedes Wort, das ich zu meinen Eltern oder sie zu mir sagen, soleicht zu einem Balken der mir vor die Füße fliegt. Alle Verbindung, die ich mir nicht selbst schaffe oder erkämpfe, sei es selbst gegen Teile meines Ich, ist wertlos, hindert mich am Gehn, ich hasse sie oder bin nahe daran sie zu hassen. Der Weg ist lang, die Kraft ist klein, es gibt übergenug Grund zu solchem Haß. Nun stamme ich aber aus meinen Eltern, bin mit ihnen und den Schwestern im Blut verbunden, fühle das im gewöhnlichen Leben und infolge der notwendigen Verranntheit in meine besondern Absichten nicht, achte es aber im Grunde mehr als ich weiß. Das eine Mal verfolge ich auch das mit meinem Haß, der Anblick des Ehebettes zuhause, der gebrauchten Bettwäsche, der sorgfältig hingelegten Hemden kann mich bis zum Erbrechen reizen, kann mein Inneres nach Außen kehren, es ist als wäre ich nicht endgültig geboren, käme immer wieder aus diesem dumpfen Leben in dieser dumpfen Stube zur Welt, müsse mir dort immer wieder Bestätigung holen sei mit diesen widerlichen Dingen wenn nicht ganz und gar, so doch zum Teil unlöslich verbunden, noch an meinen Laufen wollenden Füßen hängt es wenigstens, sie stecken noch im ersten formlosen Brei. Das ist das einemal. Das anderemal aber weiß ich wieder, dass es doch meine Eltern sind, notwendige immer wieder Kraft gebende Bestandteile meines eigenen Wesens, nicht nur als Hindernis, sondern auch als Wesen zu mir gehörig. Dann will ich sie so haben, wie man das Beste haben will; habe ich seit jeher in aller Bosheit, Unart, Eigensucht, Lieblosigkeit doch vor ihnen gezittert und tue es eigentlich auch noch heute, denn damit kann man nicht aufhören und haben sie Vater von der einen Seite Mutter von der andern meinen Willen wiederum notwendigerweise fast gebrochen, dann will ich sie dessen auch würdig sehn. (Ottla scheint mir zuzeiten so, wie ich eine Mutter von der Ferne wollte: rein wahrhaftig ehrlich folgerichtig, Demütigkeit und Stolz, Empfänglichkeit und Abgrenzung, Hingabe und Selbstständigkeit, Scheu und Mut in untrüglichem Gleichgewicht. Ich erwähne Ottla weil doch auch in ihr meine Mutter ist, ganz und gar unkenntlich allerdings) Ich will sie also dessen würdig sehn. Infolgedessen ist für mich ihre Unreinlichkeit 100fach so groß als sie es vielleicht in der Wirklichkeit, die mich nicht kümmert, sein mag; ihre Einfältigkeit hundertfach, ihre Lächerlichkeit hundertfach, ihre Roheit hundertfach. Ihr Gutes dagegen hundert tausendfach kleiner als in Wirklichkeit. Ich bin von ihnen betrogen und kann doch ohne verrückt zu werden gegen das Naturgesetz nicht revoltieren, also wieder Haß und nichts als Haß. Du gehörst zu mir, ich habe Dich zu mir genommen, ich kann nicht glauben dass in irgendeinem Märchen um irgendeine Frau mehr und verzweifelter gekämpft worden ist als um Dich in mir, seit dem Anfang und immer von neuem und vielleicht für immer. Also Du gehörst zu mir, deshalb ist mein Verhältnis zu Deinen Verwandten ähnlich meinem Verhältnis zu den meinen, allerdings natürlich im Guten und Bösen unvergleichlich lauer. Sie geben eine Verbindung ab, die mich hindert (hindert, selbst wenn ich niemals ein Wort mit ihnen reden sollte) und sie sind im obigen Sinn nicht würdig. Ich rede zu Dir so offen wie zu mir, Du wirst es nicht übelnehmen und auch keinen Hochmut darin suchen, er ist zumindest dort wo Du ihn suchen könntest nicht vorhanden.

Wenn Du nun hier bist und an dem Tisch meiner Eltern sitzt, ist natürlich die Angriffsfläche, welche das mir Feindliche in meinen Eltern mir gegenüber hat eine viel größere geworden. Meine Verbindung mit der Gesamt-Familie scheint ihnen eine viel größere geworden (sie ist es aber nicht und darf es nicht sein) ich scheine ihnen eingefügt in diese Reihe, deren ein Posten das Schlafzimmer nebenan ist (ich bin aber nicht eingefügt) gegen meinen Widerstand glauben sie in Dir eine Mithilfe bekommen zu haben (sie haben sie nicht bekommen) und ihr Häßliches und Verächtliches steigert sich, da es in meinen Augen einem größern überlegen sein sollte. Wenn dem so ist, warum freue ich mich dann über Deine Bemerkung nicht Weil ich förmlich vor meiner Familie stehe und unaufhörlich die Messer im Kreise schwinge, um die Familie immerfort und gleichzeitig zu verwunden und zu verteidigen, laß mich darin ganz Dich vertreten ohne dass Du mich in diesem Sinn Deiner Familie gegenüber vertrittst. Ist Dir Liebste dieses Opfer nicht zu schwer Es ist ungeheuerlich, und wird Dir nur dadurch erleichtert, dass ich, wenn Du es nicht gibst, kraft meiner Natur, es Dir entreißen muß. Gibst Du es aber, dann hast Du viel für mich getan. Ich werde Dir absichtlich 1, 2 Tage nicht schreiben, damit Du es, von mir ungestört, überlegen und beantworten kannst. Als Antwort genügt auch - so groß ist mein Vertrauen zu Dir - ein einziges Wort.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at