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[Tagebuch, 20. Juli 1916; Donnerstag]

20 Juli (1916)

Aus einem Kamin der Nachbarschaft tauchte ein kleiner Vogel, hielt sich am Kaminrand fest, sah sich in der Gegend um, erhob sich und flog. Kein gewöhnlicher Vogel, kein gewöhnlicher Vogel, der aus dem Kamin auffliegt. Aus einem Fenster des ersten Stockwerks blickte ein Mädchen zum Himmel auf, sah den Vogel hoch sich heben, rief: "Dort fliegt er, schnell, dort fliegt er" und zwei Kinder drängten sich schon zu ihren Seiten um den Vogel auch zu sehn.

Erbarme Dich meiner, ich bin sündig bis in alle Winkel meines Wesens. Hatte aber nicht ganz verächtliche Anlagen, kleine gute Fähigkeiten, wüstete mit ihnen, unberatenes Wesen, das ich war, bin jetzt nahe am Ende, gerade zu einer Zeit, wo sich äußerlich alles zum Guten für mich wenden könnte.

Schiebe mich nicht zu den Verlorenen. Ich weiß es ist eine lächerliche, in der Ferne und schon sogar in der Nähe lächerliche Eigenliebe die daraus spricht, aber lebe ich einmal, so habe ich auch die Eigenliebe des Lebendigen und ist das Lebendige nicht lächerlich, dann auch seine notwendigen Äußerungen nicht. Arme Dialektik. [Bin ich verurteilt, so bin ich nicht nur verurteilt zum Ende sondern auch verurteilt mich bis ins Ende hinein zu wehren.]

An dem Sonntagvormittag kurz vor meiner Abreise schienst Du mir beistehn zu wollen, ich hoffte, bis heute leeres Hoffen. [Und was ich auch klage, ist ohne Überzeugung, selbst ohne wirkliches Leid, schwingt wie der Anker eines verlorenen Schiffes weit über der Tiefe, die Halt geben könnte.] Gib mir nur Ruhe in den Nächten - kindisches Klagen.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at