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Postkarte an Felice Bauer

[Stempel: Prag - 7. XII. 16]
 


Liebste, schon einige Tage nichts. Mußt nicht etwa glauben, dass ich paradiesisch ununterbrochen lebe. Vielleicht ist die verhältnismäßige Ruhe nur Aufspeicherung der Unzufriedenheit, die dann in einer Nacht wie z. B, der letztern gesammelt hervorbricht, dass man heulen möchte und dass man den nächsten Tag also den heutigen herumzieht wie sein eigenes Begräbnis. - Du fragst nach Kritiken über die Vorlesung. Ich habe nur noch eine aus der Münchner-Augsburger Zeitung bekommen. Sie ist etwas freundlicher als die erste, aber, da sie in der Grundansicht mit der ersten übereinstimmt, verstärkt die freundlichere Stimmung noch den tatsächlich großartigen Mißerfolg, den das Ganze hatte. Ich bemühe mich gar nicht, auch noch die andern Besprechungen zu bekommen. Jedenfalls muß ich die Berechtigung der Urteile fast bis zu ihrer Wirklichkeit zugeben. Ich habe mein Schreiben zu einem Vehikel nach München, mit dem ich sonst nicht die geringste geistige Verbindung habe, mißbraucht und habe nach 2jährigem Nichtschreiben den phantastischen Übermut gehabt, öffentlich vorzulesen, während ich seit 1½ Jahren in Prag meine[n] besten Freunden nichts vorgelesen habe. Übrigens habe ich mich in Prag auch noch an Rilkes Worte erinnert. Nach etwas sehr Liebenswürdigem über den Heizer meinte er, weder in Verwandlung noch in Strafkolonie sei diese Konsequenz wie dort erreicht. Die Bemerkung ist nicht ohne weiteres verständlich, aber einsichtsvoll.

Franz




Kritiken über die Vorlesung. ... bekommen : Kritik der Münchner Vorlesung Kafkas (Kunst-Salon Goltz, 10. November 1916) in der München-Angsburger Abendzeitung, Mittagsblatt, 13. November 1916, S. 2. (Die zweite, Kafka bekannte Kritik war in den Münchener Neuesten Nachrichten, 11. November 1916, S. 3f. erschienen.) Eine weitere Kritik erschien in der Münchener Zeitung, 12. November 1916, S. 2f. Vgl. Kafka-Symposion, S. 151 ff.


Nach etwas sehr Liebenswürdigem ... aber einsichtsvoll: Rilke und Kafka sind einander wahrscheinlich nie begegnet. Kafka erfuhr Rilkes Urteil über seine Arbeiten wohl durch Eugen Mondt. Woher Rilke die damals noch unveröffentlichte Erzählung "In der Strafkolonie" kannte, ließ sich nicht ermitteln. Vermutlich hatte er sie im Manuskript gelesen - es war bereits am 30. September in München eingetroffen - und mit Eugen Mondt darüber gesprochen. Vgl. Eugen Mondt, "München-Dachau, ein literarisches Erinnerungsbüchlein" (Typoskript, Stadtbibliothek München), S. 42f. - Ein Brief Rilkes an Kurt Wolff vom 17. Februar 1922 bekundet die Aufmerksamkeit, die er dem Schaffen Kafkas entgegenbrachte: "... merken Sie mich bitte immer ganz besonders für alles vor, was von Franz Kafka an den Tag kommt. Ich bin, darf ich versichern, nicht sein schlechtester Leser.", Wolff, Briefwechsel, S. 152; Lou Albert-Lasard berichtet, dass Rilke ihr Kafkas "Verwandlung" vorgelesen habe. (Wege mit Rilke, Frankfurt am Main 1952, S. 43.)


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at