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Postkarte an Felice Bauer

[Prag, 23. X. 16
 


Liebste, heute kam Dein Brief vom Donnerstag. Gerne würde ich gegenüber Deinen häufigen Klagen über Fehlen von Nachrichten erfahren, wie es sich im ganzen ausgleicht, denn ich schreibe doch schon seit langer Zeit, den letzten Freitag ausgenommen, täglich. Was die alte Verabredung mit Felix betrifft, so hast Du das Richtige erraten. Es war allerdings bei der Art der Fragestellung nicht sehr schwer. Und nun drohst Du mir? Glücklicherweise schreckt mich Trost fast mehr als Drohungen. Deine Drohung, Felice, wird unausführbar sein, es müßte denn mit Hilfe einer Zwangsjacke geschehn. Und das wirst Du gewiß nicht tun, sondern mich so lassen, wie ich leider Gottes und glücklicherweise bin. Gestern auf dem Lande war es sehr schön. Ich bin heimlich, ohne es zu merken im Laufe der Jahre aus einem Stadtmenschen ein Landmensch oder wenigstens etwas ihm sehr Ähnliches geworden. Wir waren in einem verlorenen Ort, so ländlich, so schön! Bei einer Volksschullehrerin, die dort mit einem Gehalt von etwa 600.- K jährlich glücklich, zufrieden lebt. Um nicht zu übertreiben, sie ist eine Hochschülerin, die dort für sich und die Schule aushilfsweise unterrichtet, durch Deutschunterricht noch etwa 50 K monatlich verdient und zufällig für das erste halbe Jahr die Wohnung umsonst hat. Unterrichtet 55 Kinder, 10- und 11 jährige Buben und Mädchen. Hast Du eigentlich den Insel-Schlemihl und das Rätselbuch bekommen?

Franz


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at