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Postkarte an Felice Bauer
Liebste, heute kam Dein Brief vom Donnerstag. Gerne würde ich gegenüber
Deinen häufigen Klagen über Fehlen von Nachrichten erfahren,
wie es sich im ganzen ausgleicht, denn ich schreibe doch schon seit langer
Zeit, den letzten Freitag ausgenommen, täglich. Was die alte Verabredung
mit Felix betrifft, so hast Du das Richtige erraten. Es war allerdings
bei der Art der Fragestellung nicht sehr schwer. Und nun drohst Du mir?
Glücklicherweise schreckt mich Trost fast mehr als Drohungen. Deine
Drohung, Felice, wird unausführbar sein, es müßte denn
mit Hilfe einer Zwangsjacke geschehn. Und das wirst Du gewiß nicht
tun, sondern mich so lassen, wie ich leider Gottes und glücklicherweise
bin. Gestern auf dem Lande war es sehr schön. Ich bin heimlich, ohne
es zu merken im Laufe der Jahre aus einem Stadtmenschen ein Landmensch
oder wenigstens etwas ihm sehr Ähnliches geworden. Wir waren in einem
verlorenen Ort, so ländlich, so schön! Bei einer Volksschullehrerin,
die dort mit einem Gehalt von etwa 600.- K jährlich glücklich,
zufrieden lebt. Um nicht zu übertreiben, sie ist eine Hochschülerin,
die dort für sich und die Schule aushilfsweise unterrichtet, durch
Deutschunterricht noch etwa 50 K monatlich verdient und zufällig für
das erste halbe Jahr die Wohnung umsonst hat. Unterrichtet 55 Kinder, 10-
und 11 jährige Buben und Mädchen. Hast Du eigentlich den Insel-Schlemihl
und das Rätselbuch bekommen?
Franz
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at