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An Felice Bauer

19. IX. 16 [vermutlich I9. Oktober 1916]
 


Liebste, so einfach ist es nicht, dass ich das, was Du über Mutter, Eltern, Blumen, Neujahr und Tischgesellschaft sagst, einfach hinnehmen könnte. Du schreibst, dass es auch für Dich "nicht zu den größten Annehmlichkeiten gehören wird", bei mir zuhause mit meiner ganzen Familie am Tisch zu sitzen. Du sagst damit natürlich nur Deine Meinung, ganz richtiger Weise ohne Rücksicht darauf, ob es mir Freude macht oder nicht. Nun, es macht mir nicht Freude. Aber es würde mir gewiß noch viel weniger Freude machen, wenn Du das Gegenteil dessen geschrieben hättest. Bitte sag mir so klar als möglich, worin wird diese Unannehmlichkeit für Dich bestehn und worin glaubst Du ihre Ursachen zu sehn. Wir haben ja, soweit ich in Frage komme, schon oft über diese Sache gesprochen, aber es ist eben schwer hier das Richtige nur ein wenig zu fassen. Man muß es immer wieder von neuem versuchen. In Schlagworten - und deshalb mit einer der Wahrheit nicht ganz entsprechenden Härte - kann ich meine Stellung etwa so umschreiben: Ich, der ich meistens unselbständig war, habe ein unendliches Verlangen nach Selbständigkeit, Unabhängigkeit, Freiheit nach allen Seiten; lieber Scheuklappen anziehen und meinen Weg bis zum Äußersten gehn, als dass sich das heimatliche Rudel um mich dreht und mir den Blick zerstreut. Deshalb wird jedes Wort, das ich zu meinen Eltern oder sie zu mir sagen, so leicht zu einem Balken, der mir vor die Füße fliegt. Alle Verbindung, die ich mir nicht selbst schaffe, sei es selbst gegen Teile meines Ich, ist wertlos, hindert mich am Gehn, ich hasse sie oder bin nahe daran sie zu hassen. Der Weg ist lang, die Kraft ist klein, es gibt übergenug Grund für solchen Haß. Nun stamme ich aber aus meinen Eltern, bin mit ihnen und den Schwestern im Blut verbunden, fühle das im gewöhnlichen Leben und infolge der notwendigen Verranntheit in meine besonderen Absichten nicht, achte es aber im Grunde mehr als ich weiß. Das eine Mal verfolge ich auch das mit meinem Haß; der Anblick des Ehebettes Zuhause, der gebrauchten Bettwäsche, der sorgfältig hingelegten Nachthemden kann mich bis nahe zum Erbrechen reizen, kann mein Inneres nach außen kehren, es ist, als wäre ich nicht endgiltig geboren, käme immer wieder aus diesem dumpfen Leben in dieser dumpfen Stube zur Welt, müsse mir dort immer wieder Bestätigung holen, sei mit diesen widerlichen Dingen, wenn nicht ganz und gar, so doch zum Teil unlöslich verbunden, noch an den laufenwollenden Füßen hängt es wenigstens, sie stecken noch im ersten formlosen Brei. Das ist das eine Mal. Das andere Mal weiß ich aber wieder, dass es doch meine Eltern sind, notwendige, immer wieder Kraftgebende Bestandteile meines eigenen Wesens, nicht nur als Hindernis, sondern auch als Wesen zu mir gehörig. Dann will ich sie so haben, wie man das Beste haben will; habe ich seit jeher in aller Bosheit, Unart, Eigensucht, Lieblosigkeit doch vor ihnen gezittert - und tue es eigentlich noch heute, denn damit kann man doch niemals aufhören-und haben sie, Vater von der einen Seite, Mutter von der andern, meinen Willen, wiederum notwendiger Weise, fast gebrochen, so will ich sie dessen würdig sehn. (Ottla scheint mir zuzeiten so, wie ich eine Mutter in der Ferne wollte: rein, wahrhaftig, ehrlich, folgerichtig, Demütigkeit und Stolz, Empfänglichkeit und Abgrenzung, Hingabe und Selbständigkeit, Scheu und Mut in untrüglichem Gleichgewicht. Ich erwähne Ottla, weil doch auch in ihr meine Mutter ist, ganz und gar unkenntlich allerdings). Ich will sie also dessen würdig sehn. Infolgedessen ist für mich ihre Unreinlichkeit hundertfach so groß, als sie es vielleicht in der Wirklichkeit, die mich nicht kümmert, sein mag; ihre Einfältigkeit hundertfach; ihre Lächerlichkeit hundertfach, ihre Roheit hundertfach. Ihr Gutes dagegen hunderttausendfach kleiner als in Wirklichkeit. Ich bin deshalb von ihnen betrogen und kann doch ohne verrückt zu werden, gegen das Naturgesetz nicht revoltieren. Also wieder Haß und fast nichts als Haß. Du nun gehörst zu mir, ich habe Dich zu mir genommen; ich kann nicht glauben, dass in irgendeinem Märchen um irgendeine Frau mehr und verzweifelter gekämpft worden ist als um Dich in mir, seit dem Anfang und immer von neuem und vielleicht für immer. Also Du gehörst zu mir. Deshalb ist mein Verhältnis zu Deinen Verwandten ähnlich meinem Verhältnis zu den meinen, allerdings natürlich im Guten wie im Bösen unvergleichlich lauer. Auch sie geben eine Verbindung ab, die mich hindert (hindert, selbst wenn ich niemals ein Wort mit ihnen reden sollte), und sie sind im obigen Sinn nicht würdig. Ich rede hierin zu Dir so offen, wie ich zu mir rede. Du wirst es mir nicht übelnehmen und auch keinen Hochmut darin suchen, er ist zumindest dort, wo Du ihn suchen könntest, nicht vorhanden. Wenn Du nun hier in Prag sein solltest und an dem Tisch meiner Eltern sitzest, ist natürlich die Angriffsfläche, welche das mir Feindliche in meinen Eltern mir gegenüber hat, eine viel größere geworden. Meine Verbindung mit der Gesamtfamilie scheint ihnen dann eine viel größere geworden (sie ist es aber nicht und darf es nicht sein) und sie lassen es mich fühlen; ich scheine ihnen eingefügt in diese Reihe, deren ein Posten das Schlafzimmer nebenan ist (ich bin aber nicht eingefügt); gegen meinen Widerstand glauben sie in Dir eine Mithilfe bekommen zu haben (sie haben sie nicht bekommen) und ihr Häßliches und Verächtliches steigert sich, da es in meinen Augen einem Größeren überlegen sein sollte. Wenn es sich aber so verhält, warum freue ich mich dann über Deine letzte Bemerkung nicht? Weil ich förmlich vor meiner Familie stehe und unaufhörlich die Messer im Kreise schwinge, um die Familie immerfort und gleichzeitig zu verwunden und zu verteidigen. Laß mich in diesem ganz Dich vertreten, ohne dass Du mich Deiner Familie gegenüber vertrittst. Ist Dir, Liebste, dieses Opfer nicht zu schwer? Es ist ungeheuerlich und wird Dir nur dadurch erleichtert, dass ich, wenn Du es nicht gibst, kraft meiner Natur es Dir entreißen muß. Gibst Du es aber, dann hast Du viel für mich getan.

Ich werde Dir absichtlich ein, zwei Tage nicht schreiben, damit Du es, von mir ungestört, überlegen und beantworten kannst. Als Antwort genügt auch - so groß ist mein Vertrauen zu,Dir - ein einziges Wort.

Franz




[vermutlich I9. Oktober 1916]: Vgl. Tagebücher (18. Oktober 1916), S. 513ff.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at