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An Felice Bauer
Liebste, so einfach ist es nicht, dass ich das, was Du über Mutter,
Eltern, Blumen, Neujahr und Tischgesellschaft sagst, einfach hinnehmen
könnte. Du schreibst, dass es auch für Dich "nicht
zu den größten Annehmlichkeiten gehören wird", bei
mir zuhause mit meiner ganzen Familie am Tisch zu sitzen. Du sagst damit
natürlich nur Deine Meinung, ganz richtiger Weise ohne Rücksicht
darauf, ob es mir Freude macht oder nicht. Nun, es macht mir nicht Freude.
Aber es würde mir gewiß noch viel weniger Freude machen, wenn
Du das Gegenteil dessen geschrieben hättest. Bitte sag mir so klar
als möglich, worin wird diese Unannehmlichkeit für Dich bestehn
und worin glaubst Du ihre Ursachen zu sehn. Wir haben ja, soweit ich in
Frage komme, schon oft über diese Sache gesprochen, aber es ist eben
schwer hier das Richtige nur ein wenig zu fassen. Man muß es immer
wieder von neuem versuchen. In Schlagworten - und deshalb mit einer der
Wahrheit nicht ganz entsprechenden Härte - kann ich meine Stellung
etwa so umschreiben: Ich, der ich meistens unselbständig war, habe
ein unendliches Verlangen nach Selbständigkeit, Unabhängigkeit,
Freiheit nach allen Seiten; lieber Scheuklappen anziehen und meinen Weg
bis zum Äußersten gehn, als dass sich das heimatliche Rudel
um mich dreht und mir den Blick zerstreut. Deshalb wird jedes Wort, das
ich zu meinen Eltern oder sie zu mir sagen, so leicht zu einem Balken,
der mir vor die Füße fliegt. Alle Verbindung, die ich mir nicht
selbst schaffe, sei es selbst gegen Teile meines Ich, ist wertlos, hindert
mich am Gehn, ich hasse sie oder bin nahe daran sie zu hassen. Der Weg
ist lang, die Kraft ist klein, es gibt übergenug Grund für solchen
Haß. Nun stamme ich aber aus meinen Eltern, bin mit ihnen und den
Schwestern im Blut verbunden, fühle das im gewöhnlichen Leben
und infolge der notwendigen Verranntheit in meine besonderen Absichten
nicht, achte es aber im Grunde mehr als ich weiß. Das eine Mal verfolge
ich auch das mit meinem Haß; der Anblick des Ehebettes Zuhause, der
gebrauchten Bettwäsche, der sorgfältig hingelegten Nachthemden
kann mich bis nahe zum Erbrechen reizen, kann mein Inneres nach außen
kehren, es ist, als wäre ich nicht endgiltig geboren, käme immer
wieder aus diesem dumpfen Leben in dieser dumpfen Stube zur Welt, müsse
mir dort immer wieder Bestätigung holen, sei mit diesen widerlichen
Dingen, wenn nicht ganz und gar, so doch zum Teil unlöslich verbunden,
noch an den laufenwollenden Füßen hängt es wenigstens,
sie stecken noch im ersten formlosen Brei. Das ist das eine Mal. Das andere
Mal weiß ich aber wieder, dass es doch meine Eltern sind, notwendige,
immer wieder Kraftgebende Bestandteile meines eigenen Wesens, nicht nur
als Hindernis, sondern auch als Wesen zu mir gehörig. Dann will ich
sie so haben, wie man das Beste haben will; habe ich seit jeher in aller
Bosheit, Unart, Eigensucht, Lieblosigkeit doch vor ihnen gezittert - und
tue es eigentlich noch heute, denn damit kann man doch niemals aufhören-und
haben sie, Vater von der einen Seite, Mutter von der andern, meinen Willen,
wiederum notwendiger Weise, fast gebrochen, so will ich sie dessen würdig
sehn. (Ottla scheint mir zuzeiten so, wie ich eine Mutter in der Ferne
wollte: rein, wahrhaftig, ehrlich, folgerichtig, Demütigkeit und Stolz,
Empfänglichkeit und Abgrenzung, Hingabe und Selbständigkeit,
Scheu und Mut in untrüglichem Gleichgewicht. Ich erwähne Ottla,
weil doch auch in ihr meine Mutter ist, ganz und gar unkenntlich allerdings).
Ich will sie also dessen würdig sehn. Infolgedessen ist für mich
ihre Unreinlichkeit hundertfach so groß, als sie es vielleicht in
der Wirklichkeit, die mich nicht kümmert, sein mag; ihre Einfältigkeit
hundertfach; ihre Lächerlichkeit hundertfach, ihre Roheit hundertfach.
Ihr Gutes dagegen hunderttausendfach kleiner als in Wirklichkeit. Ich bin
deshalb von ihnen betrogen und kann doch ohne verrückt zu werden,
gegen das Naturgesetz nicht revoltieren. Also wieder Haß und fast
nichts als Haß. Du nun gehörst zu mir, ich habe Dich zu mir
genommen; ich kann nicht glauben, dass in irgendeinem Märchen
um irgendeine Frau mehr und verzweifelter gekämpft worden ist als
um Dich in mir, seit dem Anfang und immer von neuem und vielleicht für
immer. Also Du gehörst zu mir. Deshalb ist mein Verhältnis zu
Deinen Verwandten ähnlich meinem Verhältnis zu den meinen, allerdings
natürlich im Guten wie im Bösen unvergleichlich lauer. Auch sie
geben eine Verbindung ab, die mich hindert (hindert, selbst wenn ich niemals
ein Wort mit ihnen reden sollte), und sie sind im obigen Sinn nicht würdig.
Ich rede hierin zu Dir so offen, wie ich zu mir rede. Du wirst es mir nicht
übelnehmen und auch keinen Hochmut darin suchen, er ist zumindest
dort, wo Du ihn suchen könntest, nicht vorhanden. Wenn Du nun hier
in Prag sein solltest und an dem Tisch meiner Eltern sitzest, ist natürlich
die Angriffsfläche, welche das mir Feindliche in meinen Eltern mir
gegenüber hat, eine viel größere geworden. Meine Verbindung
mit der Gesamtfamilie scheint ihnen dann eine viel größere geworden
(sie ist es aber nicht und darf es nicht sein) und sie lassen es mich fühlen;
ich scheine ihnen eingefügt in diese Reihe, deren ein Posten das Schlafzimmer
nebenan ist (ich bin aber nicht eingefügt); gegen meinen Widerstand
glauben sie in Dir eine Mithilfe bekommen zu haben (sie haben sie nicht
bekommen) und ihr Häßliches und Verächtliches steigert
sich, da es in meinen Augen einem Größeren überlegen sein
sollte. Wenn es sich aber so verhält, warum freue ich mich dann über
Deine letzte Bemerkung nicht? Weil ich förmlich vor meiner Familie
stehe und unaufhörlich die Messer im Kreise schwinge, um die Familie
immerfort und gleichzeitig zu verwunden und zu verteidigen. Laß mich
in diesem ganz Dich vertreten, ohne dass Du mich Deiner Familie gegenüber
vertrittst. Ist Dir, Liebste, dieses Opfer nicht zu schwer? Es ist ungeheuerlich
und wird Dir nur dadurch erleichtert, dass ich, wenn Du es nicht gibst,
kraft meiner Natur es Dir entreißen muß. Gibst Du es aber,
dann hast Du viel für mich getan.
Ich werde Dir absichtlich ein, zwei Tage nicht schreiben, damit Du es,
von mir ungestört, überlegen und beantworten kannst. Als Antwort
genügt auch - so groß ist mein Vertrauen zu,Dir - ein einziges
Wort.
Franz
[vermutlich I9. Oktober 1916]: Vgl. Tagebücher
(18. Oktober 1916), S. 513ff.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at