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Postkarte an Felice Bauer

[Prag,] 9. Okt. 16
 


Liebste, heute nichts, aber das wisse, den Schluß des Berichtes über den ersten Heimabend muß ich noch bekommen. Die Hauptaufgabe wird zunächst vielleicht die böse Hertha bilden. Sie muß doch irgendeinen Grund für ihr Benehmen haben. Der Auftrag, den Du den Mädchen gegeben hast, wird wohl kaum genügen, da doch die Mädchen nicht gern mit ihr sprechen. Wäre es nicht gut, wenn Du geradezu an sie schreiben würdest? Dagegen finde ich das Benehmen des andern Mädchens am Schluß des Abends nicht so unbegreiflich, das hätte ich unter Umständen auch gemacht. Für die vorzeitige Beendigung der Minna von Bannhelm hast Du ja meine Zustimmung schon im voraus bekommen. Gewiß ist es das beste. In das ihnen ganz und gar Unbegreifliche soll man die Kinder nicht treiben. Zwar soll man nicht vergessen, dass selbst das gelegentlich sehr gute Wirkungen erzielen kann, nur sind sie vollständig unberechenbar. Ich denke dabei an einen Professor, der während der Lesung der Ilias oft sagte: "Sehr schade, dass man das mit Euch lesen muß. Ihr könnt es ja nicht verstehn, selbst wenn Ihr glaubt, dass Ihr es versteht, versteht Ihr es gar nicht. Man muß viel erfahren haben, ehe man auch nur einen Zipfel davon versteht." - Diese Bemerkungen (der ganze Mann war allerdings auf diesen Ton eingestellt) haben damals auf mich kalten Jungen mehr Eindruck gemacht als Ilias und Odyssee zusammen. Vielleicht einen allzu demütigenden aber doch wesenhaften wenigstens.

Franz




"Sehr schade, dass man ... versteht." : Vermutlich ein Ausspruch von Kafkas Latein- und Griechischlehrer Emil Gschwind. Vgl. Wagenbach, Biographie, S. 39.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at