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An Felice Bauer
Liebste, ich dachte heute besondere Ruhe zu haben, der Foerster liegt neben
mir, ich wollte den Rest des Referates schreiben, womöglich das Ganze
besser, aber es geht nicht, es ist hier lebendiger als sonst. Ich werde
froh sein, wenn man mich paar Zeilen zu Ende schreiben läßt.
Heute kam Dein Brief vom Dienstag. Diese Briefe von Dir binden uns stärker
und tiefer aneinander, als die besten Briefe aus der besten alten Zeit.
Es tut mir nur leid, dass ich Dir nur so flüchtig und vage antworten
kann, d. h. vager noch, als es meinem Wesen in diesen Dingen entspricht.
Es ist die Schreibmaschine, die mich zu Flüchtigkeit und Geschwätzigkeit
verführt, während sie Dich klarer schreiben läßt als
sonst. Nun, es wird auch die Notwendigkeit der Schreibmaschinenschrift
einmal vorübergehn. Nervös werde ich auch, wenn ich daran denke,
dass mir irgendeine Nachricht verlorengehen könnte. So schreibst
Du z.B., dass Du letzten Montag nicht geschrieben hast, wegen
Sophie und hebst dies besonders hervor. Aber von Sonntag habe ich auch
keine Nachricht und es hätte vielleicht, trotzdem ich mir dies eigentlich
nicht vorstellen kann, in einem Sonntagsbrief eine Nachricht über
den Samstagabend, Deinen ersten Abend mit den Mädchen, sein können,
von dem Du Dienstag nicht mehr schreibst, ebenso allerdings nicht von
dem angesagten Sonntagsausflug. Ist einmal eine Nachricht verloren gegangen
rund weiß ich es bestimmt, so finde ich mich ja damit ab, aber die
Ungewißheit stört mich. Gib mir also darüber die Möglichkeit
des Überblicks. Hast Du übrigens meine flüchtige Antwort
auf Deine Glaubensfragen bekommen? Das war ja ein großes Thema, das
Lemm auf sich genommen hat, fast zu groß, als dass es auch die
schönste Wohnung in Friedenau zu umfassen imstande sein sollte. Wer
waren die Zuhörer? Könntest Du mir über den Vortrag, die
Diskussion und vielleicht auch über den alten Vortrag des Dr. Lehmann
über religiöse Erziehung etwas sagen, nur in paar Worten natürlich?
Lemm kenne ich natürlich aus seinen Aufsätzen
hie und da. Er ist phantastisch bis zum Vertrakten (ich weiß nicht,
ob Du von seiner Lehre vom Zwischenland gehört hast?), aber wahrhaftig,
konsequent und zu vielem fähig. So scheint er mir. Wie alt ist er?
Mit wem hast Du dort gesprochen?
dass Du die Lesung von "Minna von Barnhelm" weiter übernehmen
mußt, ist allerdings eine schwere Erbschaft. Sind denn so kleine
Mädchen überhaupt der Auffassung eines kompliziert Dramatischen
fähig und könnte man nicht, wenn die Lesung nicht zu weit vorgeschritten
war, und übrigens auch in diesem Fall, mit einer passenden Erklärung
das Lesen des Stückes abbrechen. Es müßte denn sein, dass
Deine Vorgängerin-doch gewiß nicht Mirjam - in ihnen den Sinn
für das Stück wirklich geweckt hat. Es wäre mir das aber
eine unbegreifliche Tat. Wenn diese Mädchen sich aber schon an Dramen
heranmachen, dann wird vielleicht das Buch von Asch zu kindlich für
sie sein (was allerdings nicht unbedingt ein Fehler sein müßte),
denn dann müßten sie eigentlich auch zum Lesen der Bibel in
ihrem Sinne schon irgendwie fähig sein, wenn ich auch von meiner Seite
davon abraten würde. Ich werde Dir jedenfalls zur weitern Auswahl
des Richtigen ein Buch von Perez: "Volkstümliche
Erzählungen" schicken lassen.
Im Stundenplan verstehe ich den Begriff Kameradschaft nicht. Sind diese
Mittwochstunden etwas anderes als das Lesen und Spielen am Samstag? Und
wie kommt es, dass Deine Stunden am Mittwoch um 6, am Samstag sogar
schon um 5 beginnen; kannst Du denn um diese Zeit schon dort sein, gar
Samstag, wo Auszahlung ist? Sehr gut, dass auch Frl. Bloch eine Möglichkeit
zum Eingreifen gefunden hat.
Gestern sind 2 Bilder von Feigl gekommen, darunter gerade das, welches
ich wollte, ohne es aus der Erinnerung beschreiben zu können.
Dein Glückwunschbrief kam heute. Das Blumengeschenk entspricht meinen
Familienverhältnissen nicht; wenn ich die Blumen hätte kaufen
sollen, hätte ich mich vorher zerbrechen müssen. Das wolltest
Du doch nicht. Auch wären dann die Blumen erst recht ungekauft geblieben.
Jedenfalls segne ich Neujahr dafür, dass es Dir vielleicht zwei
ruhige Tage verschafft hat.
Franz
Lemm: Der Schriftsteller Alfred Lemm (Pseud. für
Alfred Lehmann] (1889-1918), Bruder des bereits genannten Dr. Siegfried
Lehmann (vgl. Arm. 2 S. 673), wurde durch Erzählungen, Romane und
eine Reihe kulturpolitischer Aufsitze bekannt. Zur "Idee des Mittellandes",
auf die sich Kafka hier offenbar bezieht, vgl. A. Lemm, "Wir Deutschjuden",
Die Tat. Sozial-religiöse Monatschrift für deutsche Kultur,
7. Jg., Heft 11 (Februar 1976), S. 946 f.
Perez: "Volkstümliche Erzählungen:
Jizchok Leib Perez, Volkstümliche Erzählungen, 3. Bd.
der Sammlung jüdischer Bücher Vom alten Stamm, Berlin x973.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at