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Vier Postkarten an Felice Bauer

[Prag,] 16. Sept. 16
 


Liebste wieder nur paar Worte, aber nahe gesprochen. Es ist das Heim, das uns so nahe bringt. Vor den Fragen der Mädchen fürchte Dich nicht, oder vielmehr fürchte Dich vor ihnen und halte diese Furcht als den wichtigsten Nutzen des Heims fest. Es ist ja nicht eigentlich das Fragen, vor dem Du Dich fürchtest, es ist auch das Nichtfragen, das Dich manchmal beengen wird und es ist nicht nur das Fragen dieser Mädchen, sondern auch jenes der drohenden oder segnenden "brauchbaren Menschen" von denen Du lieb und ergeben schriebst. Im übrigen wird es Deine Sache sein, ihr Vertrauen zu Dir auf anderes zu stellen als auf Religiöses und wo darin ein Gemeinsames nötig wird, den dunklen Komplex des allgemeinen Judentums, der so vielerlei Undurchdringliches enthält, wirken lassen. Dadurch soll natürlich nichts verwischt werden, wie man es z. B. hier nicht ungerne macht. Das wäre durchaus unrecht, glaube ich. Es fällt mir nicht ein, in den Tempel zu gehn. Der Tempel ist nicht etwas, an das man sich heranschleichen kann. Man kann es jetzt nicht, wie man es nicht als Kind konnte; ich erinnere mich noch, wie ich als Kind in der fürchterlichen Langweiligkeit und Sinnlosigkeit der Tempelstunden förmlich ertrunken bin; es waren Vorstudien, welche die Hölle für die Gestaltung des spätern Bureaulebens machte. Diejenigen welche sich nur infolge ihres Zionismus an den Tempel herandrängen, kommen mir vor wie Leute, die sich hinter der Bundeslade und durch sie den Eingang in den Tempel erzwingen wollten, statt ruhig durch den allgemeinen Menscheneingang zu gehn. Aber bei Dir verhält es sich, soweit ich sehe, gar nicht so wie bei mir. Während ich den Kindern sagen müßte (natürlich ist es nicht gut, solche Gespräche hervorzulocken und sie werden von selbst nur sehr selten entstehn, denn Großstadtkinder haben genug Umblick in der Welt und verstehn es, wenn sie Ostjuden sind, gleichzeitig sich zu bewahren und den andern hinzunehmen), dass ich infolge meiner Herkunft, Erziehung, Anlage, Umgebung nichts, was man aufzeigen könnte, mit ihrem Glauben gemeinsam habe (das Halten der Gebote ist nichts Äußeres, im Gegenteil der Kern des jüdischen Glaubens), während ich also das ihnen irgendwie eingestehen müßte (und ich würde das offen tun, ohne Offenheit ist hier alles sinnlos), bist Du vielleicht nicht ganz ohne aufzuzeigende Verbindung mit dem Glauben. Es sind freilich vielleicht nur halbvergessene Erinnerungen, begraben unter dem Lärm der Stadt, des Geschäftslebens, des Wustes aller in den vielen Jahren eindringenden Gespräche und Gedanken. Ich -,will nicht sagen, dass Du noch bei der Tür stehst, aber vielleicht glänzt Dir doch noch irgendwo in der Ferne die Klinke der Tür. Ich meine, vielleicht kannst Du den Kindern auf ihre Frage wenigstens eine traurige Antwort geben, ich könnte auch das nicht. Das aber wäre genug, um Dir in jedem Fall Vertrauen zu gewinnen. Und wann beginnst Du nun, liebe Lehrerin?

Deiner Schwester habe ich geschrieben. Da Du mir einerseits meine Gegenargumente nicht widerlegt hast, andererseits aber auch nicht vom Schreiben abgeraten hast, habe ich einen lau überzeugten und entsprechend überzeugenden Brief geschrieben.

Franz


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at