Voriger Eintrag | Jahresübersicht | Indexseite | Nächster Eintrag |
Drei Postkarten an Felice Bauer
Liebste, also Donnerstag morgens sahst Du für den Abend nicht die
Dragonerstraße sondern Friedrichshagen voraus,
was gesundheitlich und landschaftlich sicher richtig war, mich aber mit
Rücksicht auf die Erkundigungen, die Du Sonntag im Cafe des Westens
eingezogen haben wolltest, ein wenig enttäuscht hat. Offenbar hat
die montägige Auskunft der Frau Dr. Zlocisti (von der hier sehr viel
Gutes erzählt wird. Wie war Dein Eindruck?) die vorige Auskunft hinfällig
gemacht. Aufmerksam wollte ich Dich darauf machen, wie groß der Vorteil
ist, der darin liegt, dass Du in eine werdende, noch unfertige Sache
kommst, die Du von Anfang an mit allen Fehlern und Lehren des Anfangs wirst
miterleben können. Ich freue mich sehr auf Nachrichten. -Ja, Fontane!
Du mußt der Frau nicht Unrecht tun, so sehr Unrecht sie selbst gehabt
hat, und zwar oft. Ich habe zwar das Jahr genannt aber verschwiegen, dass
Fontane damals 57Jahre alt war, also immerhin sehr berechtigte Ansprüche
für sich erheben konnte, dass aber dem die Ansprüche einer
Familie mit - ich glaube - 5 Kindern entgegenstanden. Im Recht war er,
aber einfach war es nicht. Noch eine Stelle über seine Frau zu dieser
Sache: "Ich würde ihre Forderung unendlich lieblos
nennen müssen, wenn ich nicht annähme, sie hätte sich in
ihrem Gemüt mit dem berühmten Alltagssatz beruhigt: der Mensch
gewöhnt sich an alles. Dieser Satz ist falsch. Ich bin so unsentimental
wie möglich, aber es ist ganz gewißlich wa[h]r, dass zahllosen
Menschen, alten und jungen, das Herz vor Gram, Sehnsucht und Kränkung
bricht. Jeder Tag führt den Beweis, dass sich der Mensch nicht
an alles gewöhnt. Auch ich würde es nicht gekonnt haben und wäre
entweder, wenn ich durchaus hätte aushalten müssen, tiefsinnig
geworden oder hätte doch eine traurige Wandlung aus dem Frischen ins
Abgestandene, aus dem geistig Lebendigen ins geistig Tote durchgemacht.
Das heißt dann freilich "sich gewöhnen" aber wie! "
Es ist das alles flüchtiger, leichter gesagt, als es gemeint ist,
und es ist vielleicht sogar flüchtiger gemeint, als es in Wahrheit
ist, denn Fontane sprang so kräftig als er war darüber weg. Aber
seine Forderung gegenüber seiner Frau, das zu verstehn (ich meine,
es mitzuleben) war zu hart, ich leugne die Möglichkeit dessen; sie
allerdings hätte im Vertrauen auf ihn schweigen sollen, aber wenn
sie es in der langen Ehe nicht gelernt hatte (ich meine das Vertrauen und
das Schweigen), so mußte man es auch jetzt nicht erwarten. Übrigens
fehlen uns zur Abhaltung des ordentlichen Gerichts ihre Briefe. Jetzt aber
genug. Hoffentlich morgen wieder Nachricht, ich schnappe nach den Karten,
wie die kleine Maus nach dem Speck in der Falle, in der sie mich heute
im Bureau entsetzt hat.
Viele Grüße Franz
Dragonerstraße: In der Dragonerstraße
22 (heute: Max-Beer-Straße 5) war das Jüdische Volksheim.
Ich würde ... wie : Fontane an Mathilde v.
Rohr am 1. Juli 1876, vgl. Anm. S. 680.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at