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Drei Postkarten an Felice Bauer

[Prag, 21.] August 16
 


Liebste, also Donnerstag morgens sahst Du für den Abend nicht die Dragonerstraße sondern Friedrichshagen voraus, was gesundheitlich und landschaftlich sicher richtig war, mich aber mit Rücksicht auf die Erkundigungen, die Du Sonntag im Cafe des Westens eingezogen haben wolltest, ein wenig enttäuscht hat. Offenbar hat die montägige Auskunft der Frau Dr. Zlocisti (von der hier sehr viel Gutes erzählt wird. Wie war Dein Eindruck?) die vorige Auskunft hinfällig gemacht. Aufmerksam wollte ich Dich darauf machen, wie groß der Vorteil ist, der darin liegt, dass Du in eine werdende, noch unfertige Sache kommst, die Du von Anfang an mit allen Fehlern und Lehren des Anfangs wirst miterleben können. Ich freue mich sehr auf Nachrichten. -Ja, Fontane! Du mußt der Frau nicht Unrecht tun, so sehr Unrecht sie selbst gehabt hat, und zwar oft. Ich habe zwar das Jahr genannt aber verschwiegen, dass Fontane damals 57Jahre alt war, also immerhin sehr berechtigte Ansprüche für sich erheben konnte, dass aber dem die Ansprüche einer Familie mit - ich glaube - 5 Kindern entgegenstanden. Im Recht war er, aber einfach war es nicht. Noch eine Stelle über seine Frau zu dieser Sache: "Ich würde ihre Forderung unendlich lieblos nennen müssen, wenn ich nicht annähme, sie hätte sich in ihrem Gemüt mit dem berühmten Alltagssatz beruhigt: der Mensch gewöhnt sich an alles. Dieser Satz ist falsch. Ich bin so unsentimental wie möglich, aber es ist ganz gewißlich wa[h]r, dass zahllosen Menschen, alten und jungen, das Herz vor Gram, Sehnsucht und Kränkung bricht. Jeder Tag führt den Beweis, dass sich der Mensch nicht an alles gewöhnt. Auch ich würde es nicht gekonnt haben und wäre entweder, wenn ich durchaus hätte aushalten müssen, tiefsinnig geworden oder hätte doch eine traurige Wandlung aus dem Frischen ins Abgestandene, aus dem geistig Lebendigen ins geistig Tote durchgemacht. Das heißt dann freilich "sich gewöhnen" aber wie! " Es ist das alles flüchtiger, leichter gesagt, als es gemeint ist, und es ist vielleicht sogar flüchtiger gemeint, als es in Wahrheit ist, denn Fontane sprang so kräftig als er war darüber weg. Aber seine Forderung gegenüber seiner Frau, das zu verstehn (ich meine, es mitzuleben) war zu hart, ich leugne die Möglichkeit dessen; sie allerdings hätte im Vertrauen auf ihn schweigen sollen, aber wenn sie es in der langen Ehe nicht gelernt hatte (ich meine das Vertrauen und das Schweigen), so mußte man es auch jetzt nicht erwarten. Übrigens fehlen uns zur Abhaltung des ordentlichen Gerichts ihre Briefe. Jetzt aber genug. Hoffentlich morgen wieder Nachricht, ich schnappe nach den Karten, wie die kleine Maus nach dem Speck in der Falle, in der sie mich heute im Bureau entsetzt hat.

Viele Grüße Franz




Dragonerstraße: In der Dragonerstraße 22 (heute: Max-Beer-Straße 5) war das Jüdische Volksheim.


Ich würde ... wie : Fontane an Mathilde v. Rohr am 1. Juli 1876, vgl. Anm. S. 680.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at