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[Tagebuch, 1. Oktober 1915; Freitag]

1. Okt. 1915

III. Band Memoiren des Generals Marcellin de Marbot Polozk - Beresina - Leipzig - Waterloo

II

Fehler die Napoleon beging:

1 Entschluß zu diesem Krieg. Was wollte er erreichen? Strenge Durchführung der Kontinentalsperre in Rußland. Das war unmöglich. Alexander I konnte nicht nachgeben, ohne sich zu gefährden. Sein Vater Paul I war ja wegen des Bündnisses mit Frankreich und wegen des Krieges mit England, der Rußlands Handel unermeßlich geschädigt hatte ermordet worden. Trotzdem hoffte Napoleon noch immer, Alex. werde nachgeben. Nur um das zu erzwingen, wollte er am Njemen aufmarschieren

2. Er konnte wissen was ihn erwartete. Oberstleutnant de Ponthon, der einige Jahre in russischen Diensten gewesen war, beschwor ihn kniefällig, abzulassen. Die von ihm angeführten Hindernisse waren: Stumpfheit und fehlende Mitwirkung der seit langen Jahren von Rußland unterworfenen litauischen Provinzen, der Fanatismus der Moskowiter, Mangel an Lebensmitteln und Fourage, das wüste Land, die beim geringsten Regen für Artillerie unpassierbaren Wege, Strenge des Winters, Unmöglichkeit bei Schneefall, der schon anfangs Oktober eintritt vorwärtszukommen. - Napoleon ließ sich von Maret, Herzog von Bassano und Davout entgegengesetzt beeinflussen.

3. Er hätte Österreich und Preußen durch Abverlangen starker Hilfstruppen möglichst schwächen sollen, verlangte aber nur je 30000 Mann

Er nahm den preußischen Kronprinzen trotzdem er darum gebeten wurde nicht ins Hauptquartier mit.

4. Er hätte sie in die Front nehmen sollen, statt dessen stellte er sie auf die Flügel, die Österreicher unter Schwarzenberg nach Wolhynien, die Preußen unter Macdonald an den Njemen, dadurch schonte er sie und gab ihnen die Möglichkeit seinen Rückweg zu verrammeln oder wenigstens zu gefährden, was wirklich geschah, da die Österreicher die Armee Tschitschakow, die nach dem durch England vermittelten Frieden mit der Türkei freigeworden war im November ungestört durch Wolhynien nach Norden ziehen liessen, was das Unglück an der Beresina verschuldete.

5. Er versetzte alle Korps stark mit den unzuverlässigen Hilfsvölkern (Badenser Mecklenburger Hessen, Baiern Württemberger Sachsen Westfahlen Spanier Portugiesen Illyrier, Schweizer Kroaten, Polen, Italiener) und schädigte dadurch den Zusammenhalt. Edler Wein verdorben durch Beimengung trüben Wassers.

6. Er hoffte auf die Türkei, Schweden und Polen. Die ersten machten Frieden, weil England zahlte, Bernadotte fiel von N. ab schloß ein Bündnis mit Rußland durch Englands Vermittlung, Schweden verlor zwar Finnland, bekam aber Norwegen versprochen, das dem Napoleon ergebenen Dänemark entrissen werden sollte, die Polen: Littauen war durch die 40jährige Einverleibung in Rußland zu sehr mit diesem verbunden. Die österr. und preußischen Polen zogen zwar mit, aber ohne Begeisterung, sie fürchteten die Verwüstung ihres Landes; nur mit dem jetzt sächsischen Großherzogtum Warschau war einigermaßen zu rechnen.

7. Er wollte das eroberte Littauen von Wilna aus organisieren und sich nutzbar machen. Er hätte vielleicht allgemeine Hilfe gefunden 300000 Mann, wenn er das Königreich Polen (mit Galizien und Posen) proklamiert hätte - ein nationaler Landtag in Warschau erließ auch schon solche Proklamationen - aber das hätte Krieg mit Preußen und Österreich bedeutet (und auch den Frie denschluß mit Rußland erschwert). Übrigens wären die Polen auch dann wahrscheinlich unzuverlässig gewesen. Wilna und sein Kreis brachte nur 20 Mann als Leibwache für Napol. auf. N. wählte den Mittelweg, versprach das Königreich für den Fall der Mithilfe und erreichte dadurch nichts. Übrigens hätte N. ein polnisches Heer gar nicht ausrüsten können, er hatte keine Vorräte an Waffen und Kleidung an den Njemen nachkommen lassen.

8. Er gab Jerome Bonaparte der in militärischen Dingen ganz unerfahren war das Kommando über eine Armee 60000 Mann. Gleich beim Einrücken in Rußland hatte Napoleon die russische Armee gespalten. Kaiser Alexander und Feldmarschall Barkley zogen an die Düna nach Norden das Corps Bagration war noch bei Mir am untern Njemen. Davout hatte schon Minsk besetzt und Bagration, der dort nach Norden durchkommen wollte, wurde von ihm nach Bobruisk gegen Jerome geworfen. Hätte Jerome einheitlich mit Davout gearbeitet - das fand er aber mit seiner Königswürde nicht vereinbar - wäre Bagration vernichtet oder zur Kapitulation gezwungen worden. Bagration entkam, Jerome wurde nach Westfalen geschickt, an seine Stelle kam Junot, der aber bald auch einen schweren Fehler beging.

9. Er ernannte den Herzog von Bassano zum Civil und den General Hogendorp zum Militärgouverneur der Provinz Litauen. Keiner verstand es der Armee einen Rückhalt zu schaffen. Der Herzog war Diplomat, verstand nichts von der Verwaltung, Hogendorp kannte nicht die französischen Gebräuche und die militärischen Dienstvorschriften. Er sprach sehr schlecht französisch, fand also weder bei den Franzosen Sympatie noch bei dem Landesadel.

10. ein Vorwurf, den andere Schriftsteller, nicht Marbot, machen

Er blieb 19 Tage in Wilna, 17 in Witebsk bis zum 13 VIII, verlor also 36 Tage. Erklärlich ist es aber, er hoffte noch auf ein Abkommen mit den Russen, wollte einen Mittelpunkt zur Dirigierung der hinter Bagration streifenden Korps erhalten und die Kräfte der Truppen schonen. Auch begannen die Schwierigkeiten der Verpflegung, die Truppen waren nach zurückgelegtem Tagesmarsch jeden Abend gezwungen, sich ihre Lebensbedürfnisse oft von sehr weit herzuholen. Nur Davout hatte für sein Korps einen Lebensmitteltrain und Herden.

11. Unnötig große Verluste bei der Belagerung von Smolensk 12000 Mann. N. hatte keine so energische Verteidigung erwartet. Hätte man Smolensk umgangen und so auf die Rückzugslinie von Barclay de Tolly gedrückt, hätte man es ohne Kampf bekommen.

12. Man hat ihm seine Untätigkeit während der Schlacht bei Borodino (7. Sept.) vorgeworfen. Er gieng in einer Schlucht den ganzen Tag auf und ab, nur zweimal stieg er auf einen Hügel. Nach Marbots Meinung war das kein Fehler, aber N. war an dem Tag krank, er hatte heftige Migräne. Er hatte am 6. Abend Nachrichten aus Portugal bekommen. Marschall Marmont, einer der Generäle in denen sich N. getäuscht hatte, war bei Salamanca von Wellington schwer geschlagen worden.

Im Principe war der Rückzug aus Moskau bald beschlossen. Vieles drängte dazu: die Brände, die Kämpfe in Kaluga die Kälte, die Desertionen, die Bedrohung der Rückzugslinie, die Lage in Spanien, eine in Paris aufgedeckte Verschwörung - trotzdem blieb N. in Moskau vom 15 Sept. bis zum 19 Oktober er hoffte noch immer auf eine Einigung mit Alexander. Auf seinen letzten Vergleichsvorschlag hat Kutusoff nicht einmal geantwortet.

14 Er versuchte über Kaluga abzuziehn trotzdem das ein Umweg war. Er hoffte dort Lebensmittel zu bekommen, die Rückzugstraße über Moshaisk war auf weite Strecken nach beiden Seiten hin ausgezogen. Aber schon nach einigen Tagen merkte er, dass er hier nicht weiter kommen konnte ohne Kutusoff eine Schlacht zu liefern. Er kehrte also auf die alte Rückzugstraße zurück.

15 Die große Brücke über die Beresina war durch ein Fort gedeckt und durch ein polnisches Regiment gesichert. Im Vertrauen darauf diese Brücke benützen zu können, ließ N., um den Marsch zu erleichtern und zu beschleunigen, alle Pontons verbrennen. Inzwischen aber hatte Tschitschakov das Fort genommen und die Brücke verbrannt. Trotz äußerster Kälte war der Fluß noch nicht gefroren. Das Fehlen der Pontons war eine der Hauptursachen des Unglücks.

16 Der Übergang über die bei Studianka geschlagenen 2 Brücken war schlecht organisiert. Am 26. Nov. mittags waren die Brücken geschlagen (hätte man Pontons gehabt, hätte man schon bei Tagesanbruch den Übergang beginnen können) bis zum Morgen des 28 war man von den Russen unbehelligt. Trotzdem war damals erst ein Teil des Trains hinübergeführt und die tausende Marode hatte man 2 Tage am linken Ufer gelassen. Die Franzosen verloren 25000 Mann

17. Die Rückzugslinie war nicht gesichert. Vom Njemen bis Moskau außer in Wilna und Smolensk kein besetzter Ort, kein Magazin, kein Lazarett. Im ganzen Zwischenland streiften die Kosaken. Nichts konnte zur Armee oder von ihr kommen, ohne die Gefahr des Gefangenwerdens. Deshalb wurde auch von den etwa 100000 russischen Kriegsgefangenen kein einziger über die Grenze gebracht.

18 Mangel an Dolmetschern. Die Division Partouneaux verirrte sich auf dem Weg von Borisow nach Studianka und rannte in die Armee Wittgenstein und damit in die Vernichtung hinein. Man hatte sich eben mit den palnischen Bauern, welche führen sollten, nicht verständigen können.

Paul Holzhausen Die Deutschen in Rußland 1812

Elender Zustand der Pferde, große Anstrengungen als Futter nasses Grünstroh, unreifes Getreide, faules Dachstroh. Durchfall Abmagerung, Verstopfung. Klystiere von Rauchtabak. Ein Artillerieofficier erzählt, dass seine Leute mit der ganzen Länge des Armes den Pferden in den After fahren mußten, um sie von den im Darm angehäuften Kotmassen zu befreien. Auftreibung der Leiber durch das Grünfutter. Manchmal konnte man sie durch angestrengtes Laufen beseitigen. Viele giengen aber ein, hunderte sah man mit geplatzten Bäuchen an den Brücken von Pilony. "In Gräben und Löchern liegen sie mit stierem brechendem Auge und versuchen kraftlos in die Höhe zu kommen. Aber der Versuch ist fruchtlos und nur selten bringen sie einen Fuß auf die Straße, der dann ihren Zustand noch bejammernswürdiger macht. Gefühllos fahren Train- und Artilleriesoldaten mit dem Geschütz darüber weg, dass man das Bein zerknirschen, des Tieres dumpfbrüllenden Schmerzenston hört und sieht wie es von Angst und Entsetzen getrieben, Kopf und Hals konvulsivisch hebt, mit ganzer Last zurückfällt und sogleich von zähem Schlamm begraben wird." Verzweiflung schon am Anfang des Hinweges. Hitze, Hunger, Durst, Krankheit. Ein Unterofficier der nicht mehr weiter kann wird ermahnt, sich zusammenzunehmen und seinen Leuten mit gutem Beispiel voranzugehn. Bald verschwindet er im Gebüsch und erschießt sich mit seinem eigenen Gewehr. (Julisonntag) Tagsdarauf wird ein würtembergischer Oberleutnant vom Regimentskommandeur heruntergeputzt, er entreißt dem nächsten Soldaten das Bajonett und rennt es sich durch die Brust.

Einwand gegen 11. Fehler. Infolge des elenden Zustandes der Kavallerie und des Mangels an Kundschaftern wurden die oberhalb der Stadt vorhandenen Furten zu spät entdeckt.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at