Voriger Eintrag Jahresübersicht | IndexseiteNächster Eintrag

[Tagebuch, 16. September 1915; Donnerstag]

16. (September 1915) Demütigung bei Eisner. Erste Zeile eines Briefes an ihn geschrieben, weil sich mir im Kopf rasch ein würdiger Brief gebildet hatte. Trotzdem nach der ersten Zeile abgelassen. Früher war ich anders. Wie leicht ich außerdem die Demütigung getragen, wie leicht ich an sie vergessen habe, wie wenig Eindruck auch seine Gleichgültigkeit auf mich gemacht hat. Durch tausend Gänge, tausend Bureaux, an tausend früher befreundeten jetzt kalten Menschen hätte ich unberührt schweben können, ohne die Augen zu senken. Unberührbar aber auch unerweckbar. Und in dem einen Bureau hätte Max sitzen können, im andern Felix u. s. f.

Neuer Kopfschmerz noch unbekannter Art. Kurzer schmerzhafter Stich rechts über dem Auge. Vormittag zum erstenmal seitdem häufiger.

Anblick der polnischen Juden, die zum Kol Nidre gehn. Der kleine Junge, der, unter beiden Armen Gebetmäntel, neben seinem Vater herläuft. Selbstmörderisch nicht in den Tempel zu gehn.

Bibel aufgeschlagen. Von den ungerechten Richtern. Finde also meine Meinung oder wenigstens die Meinung die ich in mir bisher vorgefunden habe. Übrigens hat es keine Bedeutung, ich werde in solchen Dingen niemals sichtbar gelenkt, vor mir flattern nicht die Blätter der Bibel.

Die ergiebigste Stelle zum Hineinstechen scheint zwischen Hals und Kinn zu sein. Man hebe das Kinn und steche das Messer in die gestrafften Muskeln. Die Stelle ist aber wahrscheinlich nur in der Vorstellung ergiebig. Man erwartet dort ein großartiges Ausströmen des Blutes zu sehn und ein Flechtwerk von Sehnen und Knöchelchen zu zerreißen, wie man es ähnlich in den gebratenen Schenkeln von Truthähnen findet.

Förster Fleck in Rußland gelesen. Napoleons Rückkehr auf das Schlachtfeld von Borodino. Das Kloster dort. Es wird in die Luft gesprengt.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at