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[Tagebuch, 5. Mai 1915; Mittwoch]

5. V (1915) Nichts, dumpfer leicht schmerzender Kopf. Nachmittag Choteksche Anlagen, Strindberg gelesen, der mich nährt.

Das langbeinige schwarzäugige gelbhäutige kindliche Mädchen, lustig frech und lebhaft. Sieht eine kleine Freundin, die den Hut in der Hand trägt. "Hast Du zwei Köpfe?" Die Freundin versteht gleich den an sich sehr matten aber durch die Stimme und das Einsetzen der ganzen kleinen Person lebendigen Scherz. Lachend erzählt sie ihn einer zweiten Freundin, die sie paar Schritte weiter trifft: "Sie hat mich gefragt, ob ich zwei Köpfe habe! "

Früh Frl. R. getroffen. Eigentlich ein Abgrund von Häßlichkeit, so verändern kann sich ein Mann nicht. Plumper Körper, wie noch vom Schlafe her gelöst; die alte Jacke die ich kenne; was sie unter der Jacke trägt, ist ebenso unkenntlich als verdächtig, vielleicht nur das Hemd; es ist ihr offenbar auch unheimlich in diesem Zustand getroffen zu werden, aber sie tut etwas Falsches, statt den Ort der Verlegenheit zu verbergen, greift sie wie schuldbewußt in den Jackenausschnitt, zieht die Jacke zurecht. Starker Bartanflug auf der Oberlippe, aber nur an einer Stelle, ausgesucht häßlicher Eindruck. Trotz allem gefällt sie mir sehr gut auch im zweifellos häßlichen, überdies ist die Schönheit ihres Lächelns unverändert, die Schönheit der Augen hat durch die Herabminderung des Ganzen gelitten. Im übrigen sind wir durch Erdteile getrennt, ich verstehe sie gewiß nicht, aber ahne sie, sie dagegen begnügt sich mit dem ersten oberflächlichsten Eindruck, den sie von mir erhalten hat. In aller Unschuld bittet sie um eine Brotkarte.

Abend ein Kapitel der Neuen Christen gelesen

Der alte Vater und die ältliche Tochter. Er verständig spitzbärtig, schwach gebeugt, ein Stöckchen am Rücken. Sie breitnasig, mit starkem Unterkiefer, rundes aber zerbäultes Gesicht, dreht sich schwer in ihren breiten Hüften. " Sie sagen ich sehe schlecht aus. Ich sehe doch nicht schlecht aus. "

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at