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[Tagebuch, 27. April 1915; Dienstag]

27. IV 15. In Nagy Mihaly mit meiner Schwester. Unfähig mit Menschen zu leben, zu reden. Vollständiges Versinken in mich, Denken an mich. Stumpf, gedankenlos, ängstlich. Ich habe nichts mitzuteilen, niemals, niemandem. Fahrt nach Wien. Der alles wissende, alles beurteilende, im Reisen erfahrene Wiener, lang, blondbärtig, Beine übereinander geschlagen, liest "Az Est", bereitwillig und, wie E. und ich (in dieser Hinsicht in gleicher Weise auf der Lauer) merken, doch auch zurückhaltend. Ich sage: "Wie erfahren Sie im Reisen sind! " [Er weiß alle Eisenbahnverbindungen, die ich brauche (wie sich später herausstellt sind allerdings die Angaben nicht ganz richtig) kennt alle elektr. Straßenbahnlinien in Wien, gibt mir Ratschläge wegen des Telephonierens in Budapest an Banovce, kennt die Paketbeförderungseinrichtungen, weiß dass man weniger zahlt, wenn man im Taxameterautomobil das Gepäck mit ins Wageninnere nimmt] darauf antwortet er nichts, sondern sitzt unbeweglich mit gesenktem Kopf. Das Mädchen aus Zizkow, weichmütig, redselig, aber selten imstande durchzudringen, blutarm, wertloser, unentwickelter und nicht mehr entwicklungsfähiger Körper. Die alte Frau aus Dresden mit dem Bismarkgesicht, gibt sich später als Wienerin zu erkennen. Die dicke Wienerin, Frau eines Redakteurs der Zeit, viel Zeitungswissen, klare Rede, vertritt zu meinem größten Widerwillen meist meine eigene Meinung. Ich meist stumm, weiß nichts zu sagen, der Krieg löst in diesem Kreise nicht die geringste mitteilenswerte Meinung bei mir aus. Wien - Budapest. Die zwei Polen, der Lieutenant und die Dame, steigen bald aus, flüstern beim Fenster, sie bleich, nicht ganz jung, fast hohlwangig, oft die Hand an den vom Rock gepreßten Hüften, raucht viel. Die zwei ungarischen Juden, der eine beim Fenster Bergmann ähnlich, stützt mit der Schulter den Kopf des schlafenden andern. Den ganzen Morgen über etwa von 5 Uhr an geschäftliche Gespräche, Rechnungen und Briefe gehn von Hand zu Hand, aus einer Handtasche werden Muster der verschiedenartigsten Waren hervorgezogen. Mir gegenüber ein ungarischer Leutenant, im Schlaf leeres, häßliches Gesicht, offener Mund, komische Nase, früh als er Auskunft über Budapest gibt, erhitzt, mit glänzenden Augen, lebhafter Stimme, in der sich die ganze Person einsetzt. Nebenan im Coupee die Juden aus Bistritz, die nachhause zurückkehren. Ein Mann führt einige Frauen. Sie erfahren, dass eben Körös Mezö für den Civilverkehr gesperrt worden ist. Sie werden 20 Stunden oder noch mehr im Wagen fahren müssen. Sie erzählen von einem Mann, der solange in Radautz geblieben ist, bis die Russen so nah waren, und ihm keine andere Möglichkeit der Flucht blieb, als sich auf die letzte durchfahrende österreichische Kanone zu setzen. Budapest. Verschiedenartigste Auskünfte über die Verbindung mit Nagy Mihaly, die ungünstigen, denen ich nicht glaube, erweisen sich dann als die richtigen. Der Husare auf dem Bahnhof in der verschnürten Pelzjacke, tanzt und setzt die Füße wie ein zur Schau gestelltes Pferd. Nimmt Abschied von einer Dame, die wegfährt. Unterhält sie leicht und ununterbrochen, wenn nicht durch Worte so durch Tanzbewegungen und Hantieren mit dem Säbelgriff. Führt sie ein oder zweimal, aus vorsorglicher Befürchtung, der Zug könnte schon wegfahren, die Treppe zum Waggon hinauf, die Hand fast unter ihrer Achsel. Er ist mittelgroß, starke große gesunde Zähne, der Schnitt und die Taillenbetonung der Pelzjacke gibt seiner Erscheinung etwas Weibisches. Er lächelt viel nach allen Seiten, ein förmlich unbewußtes sinnloses Lächeln, bloßer Beweis der selbstverständlichen fast von der Officiersehre geforderten vollständigen und immerwährenden Harmonie seines Wesens. - Das alte Ehepaar, das unter Tränen Abschied nimmt. Sinnlos wiederholte unzählige Küsse, so wie man in der Verzweiflung ohne davon zu wissen, die Cigarette immerwieder vornimmt. Familienmäßiges Verhalten ohne Rücksicht auf die Umgebung. So geht es in allen Schlafzimmern zu. Ihre Gesichtszüge können überhaupt nicht gemerkt werden, eine alte unscheinbare Frau, sieht man ihr Gesicht genauer an, versucht man es genauer anzusehn, löst es sich förmlich auf und nur eine schwache Erinnerung an irgendeine kleine gleichfalls unscheinbare Häßlichkeit etwa die rote Nase oder einige Pockennarben bleibt zurück. Er hat einen grauen Schnauzbart, große Nase und wirklich Pockennarben. Radmantel und Stock. Beherrscht sich gut, trotzdem er sehr ergriffen ist. Greift in wehmütigem Scherz der alten Frau ans Kinn. Was für eine Zauberei darin liegt, wenn einer alten Frau unter das Kinn gegriffen wird. Schließlich sehen sie einander weinend ins Gesicht. Sie meinen es nicht so, aber man könnte es so deuten: Sogar dieses elende kleine Glück, wie es die Verbindung von uns zwei alten Leuten ist wird durch den Krieg gestört. - Der riesige deutsche Officier marschiert mit verschiedenen kleinen Ausrüstungsstücken behängt zuerst durch den Bahnhof dann durch den Zug. Vor Strammheit und Größe ist er steif; dass er sich bewegt ist fast erstaunlich; vor der Festigkeit der Taille, der Breite des Rückens, dem schlanken Bau des Ganzen reißt man die Augen auf, um alles in einem fassen zu können. - Im Coupee zwei ungarische Jüdinnen, Mutter und Tochter. Beide ähnlich und doch die Mutter in anständiger Verfassung, die Tochter ein elendes aber selbstbewußtes Überbleibsel. Mutter - großes gut ausgearbeitetes Gesicht, wolliger Bart am Kinn. Die Tochter kleiner, spitziges Gesicht, unreine Haut, blaues Kleid, über dem kläglichen Busen weißer Bluseneinsatz. - Rote Kreuzschwester. Sehr sicher und entschlossen. Reist, als wäre sie eine ganze Familie, die sich selbst genügt. Wie der Vater raucht sie Cigaretten und geht im Gang auf und ab, wie ein Junge springt sie auf die Bank, um etwas aus ihrem Rucksack zu holen, wie eine Mutter schneidet sie vorsichtig das Fleisch, das Brot, die Orange, wie ein kokettes Mädchen das sie wirklich ist, zeigt sie auf der gegenüberliegenden Bank ihre schönen kleinen Füße, die gelben Stiefel und die gelben Strümpfe an den festen Beinen. Sie hätte nichts dagegen angesprochen zu werden, beginnt sogar selbst zu fragen nach den Bergen, die man in der Ferne sieht, gibt mir ihren Führer, damit ich die Berge auf der Karte suche. Lustlos liege ich in meiner Ecke, ein Widerwille, sie so auszufragen wie sie es erwartet, türmt sich in mir auf, trotzdem sie mir gut gefällt. Starkes braunes Gesicht von unbestimmtem Alter, grobe Haut, gewölbte Unterlippe, Reisekleidung darunter der Pflegerinnenanzug, weicher Kappenhut nach Belieben über das fest gedrehte Haar gedrückt. Da sie nicht gefragt wird, beginnt sie brockenweise vor sich hin zu erzählen. Meine Schwester, der sie, wie ich später erfahre, gar nicht gefallen hat, unterstützt sie ein wenig. Sie fährt nach Satoralja Ujhel wo sie ihre weitere Bestimmung erfahren wird, am liebsten ist sie dort, wo am meisten zu tun ist, denn dort vergeht die Zeit am schnellsten (meine Schwester schließt daraus, dass sie unglücklich ist, was ich aber für unrichtig halte). Man erlebt mancherlei, einer z. B. hat unerträglich im Schlaf geschnarcht, man hat ihn geweckt, ihn gebeten auf die andern Patienten Rücksicht zu nehmen, er hat es versprochen, kaum aber ist er zurückgefallen, war auch schon wieder das schreckliche Schnarchen da. Es war sehr komisch. Die andern Patienten haben die Pantoffel nach ihm geworfen, er lag in der Zimmerecke und war deshalb ein nicht zu verfehlendes Ziel. Man muß mit den Kranken streng sein, sonst kommt man nicht zum Ziel, ja, ja, nein, nein, nur nicht mit sich handeln lassen. Hier mache ich eine dumme aber für mich sehr charakteristische, kriecherische, listige, nebenseitige, unpersönliche, teilnahmslose, unwahre, von weit her, aus irgendeiner letzten krankhaften Veranlagung geholte überdies durch die Strindbergaufführung vom Abend vorher beeinflußte Bemerkung darüber, dass es Frauen wohltun muß, Männer so behandeln zu dürfen. Sie überhört die Bemerkung oder geht über sie hinweg. Meine Schwester natürlich faßt sie ganz in dem Sinn auf, in dem sie gemacht ist, und eignet sich sie durch Lachen an. Weitere Erzählungen von einem Tetanuskranken, der gar nicht sterben wollte. - Der ungarische Stationsvorstand der mit seinem kleinen Jungen später einsteigt. Die Krankenschwester reicht dem Jungen eine Orange. Der Junge nimmt sie. Dann reicht sie ihm ein Stück Marcipan, berührt seine Lippen damit, aber er zögert. Ich sage: Er kann es nicht glauben. Die Schwester wiederholt es Wort für Wort. Sehr angenehm - Vor den Fenstern Theiß und Bodrog mit ihren riesigen Frühjahrsausflüssen. Seelandschaften. Wildenten. Berge mit Tokayerwein. Bei Budapest plötzlich zwischen gepflügten Feldern eine halbkreisförmige befestigte Stellung. Drathindernisse, sorgfältig ausgepölzte Deckungen mit Bänken, modellartig. Für mich rätselhafter Ausdruck: "dem Gelände angepaßt". Zur Erkenntnis des Geländes gehört der Instinkt eines Vierfüßlers. - Schmutziges Hotel in Ujhel. Im Zimmer alles abgenützt. Auf dem Nachttisch noch die Cigarrenasche der letzten Schläfer. Die Betten nur scheinbar rein überzogen. Versuch im Gruppenkommando, dann im Etappenkommando Erlaubnis zur Benutzung eines Militärzuges zu bekommen. Beide in behaglichen Zimmern, besonders das letztere. Gegensatz zwischen Militär und Beamtentum. Richtige Bewertung der Schreibarbeit: ein Tisch mit Tintenfaß und Feder. Die Balkontür und das Fenster offen. Bequemes Kanapee. In einem verhängten Verschlag auf dem Hofbalkon Geplapper von Geschirr. Die Jause wird aufgetragen. Jemand - es ist wie sich später zeigt der Oberstleutnant - lüftet den Vorhang, um zu sehn, wer hier wartet. Mit den Worten: "Man muß doch den Gehalt verdienen" unterbricht er die Jause und kommt zu mir. Ich erreiche übrigens nichts, trotzdem ich nochmals nachhause zurückgehn muß, um auch meine zweite Legitimation zu holen. Es wird mir nur auf die Legitimation die militärische Bewilligung zur Benutzung des Postzuges am nächsten Tag geschrieben, eine ganz überflüssige Bewilligung. - Gegend am Bahnhof dörfisch, Ringplatz verwahrlost (Kossutdenkmal, Kaffeehäuser mit Zigeunermusik, Konditorei, ein elegantes Schuhgeschäft, Ausschreien des "Az Est", ein stolz mit übertriebenen Bewegungen herumspazierender einarmiger Soldat, ein roher Farbdruck, der einen deutschen Sieg darstellt, ist wann ich im Laufe von 24 Stunden vorübergehe, umlagert und genau untersucht, Popper getroffen) eine reinere Vorstadt. Abend im Kaffeehaus, lauter Civilisten, Einwohner von Ujhel, einfache und doch fremdartige, zum Teil verdächtige Leute, verdächtig nicht weil Krieg ist sondern weil sie unverständlich sind. Ein Feldkurat liest allein Zeitungen. - Vormittag der junge schöne deutsche Soldat im Gasthaus. Läßt sich viel auftragen, raucht eine dicke Cigarre, schreibt dann. Scharfe strenge aber jugendliche Augen, klares regelmäßiges glattrasiertes Gesicht. Zieht dann den Tornister an. Habe ihn später, vor jemandem salutierend, noch wiedergesehn weiß aber nicht wo.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at