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[Tagebuch, 11. März 1915; Donnerstag]

11 III 15 Wie die Zeit hingeht, schon wieder zehn Tage und ich erreiche nichts. Ich dringe nicht durch. Eine Seite gelingt hie und da, aber ich kann mich nicht halten, am nächsten Tag bin ich machtlos.

Ost- und Westjuden, ein Abend. Die Verachtung der Ostjuden für die hiesigen Juden. Die Berechtigung dieser Verachtung. Wie die Ostjuden den Grund dieser Verachtung kennen, die Westjuden aber nicht. Z. B. die grauenhafte alle Lächerlichkeit übersteigende Auffassung, mit der die Mutter ihnen beizukommen sucht. Selbst Max, das Ungenügende Schwächliche seiner Rede, Rockaufknöpfen, Rockzuknöpfen. Und hier ist doch guter und bester Wille. Dagegen ein gewisser Wiesenfeld, zugeknöpft in ein elendes Röckchen, einen Kragen, der nicht mehr schmutziger werden kann als Festkragen angezogen, schmettert Ja und Nein, Ja und Nein. Ein teuflisches unangenehmes Lächeln um den Mund, Falten im jungen Gesicht, Bewegungen der Arme, wild und verlegen. Der Beste aber der Kleine, der ganz aus Schulung besteht, mit spitzer, keiner Steigerung fähiger Stimme, die eine Hand in der Hosentasche, mit der andern gegen die Zuhörer bohrend unaufhörlich fragt und gleich das zu Beweisende beweist. Stimme eines Kanarienvogels. Füllt mit dem Filigran der Rede bis zu Qual eingebrannte labyrintartige Rinnen aus. Werfen des Kopfes. Ich wie aus Holz, ein in die Mitte des Saales geschobener Kleiderhalter. Und doch Hoffnung.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at