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[Tagebuch, 19. Januar 1915; Dienstag]

19. (Januar 1915) Ich werde solange ich in die Fabrik gehen muß nichts schreiben können. Ich glaube es ist eine besondere Unfähigkeit zu arbeiten die ich jetzt fühle, ähnlich jener, als ich in der Generali angestellt war. Die unmittelbare Nähe des Erwerbslebens benimmt mir trotzdem ich innerlich so unbeteiligt bin, als es nur möglich ist, jeden Überblick so als wäre ich in einem Hohlweg, in dem ich überdies noch den Kopf senke. In der Zeitung steht heute z. B. eine Äußerung von zuständiger schwedischer Stelle, nach welcher trotz der Drohungen des Dreiverbandes die Neutralität unbedingt gewahrt werden soll. Zum Schluß heißt es: Die Dreiverbändler werden in Stockholm auf Granit beißen. Heute nehme ich es fast vollständig so hin, wie es gemeint ist. Vor 3 Tagen hätte ich bis in den Grund gefühlt, dass hier ein Stockholmer Gespenst spricht, dass "Drohungen des Dreiverbandes" "Neutralität" "zuständige schwedische Stelle" nur in bestimmte Form zusammengeballte Gebilde aus Luft sind, die man nur mit dem Auge genießen, niemals aber mit dem Finger ertasten kann.

Ich hatte mit zwei Freunden einen Ausflug für den Sonntag vereinbart, verschlief aber gänzlich unerwarteter Weise die Stunde der Zusammenkunft. Meine Freunde, die meine sonstige Pünktlichkeit kannten, staunten darüber, giengen zu dem Haus in dem ich wohnte, standen auch dort noch eine Zeitlang, giengen dann die Treppe hinauf und klopften an meiner Tür. Ich erschrak sehr, sprang aus dem Bett und achtete auf nichts anderes, als darauf mich möglichst rasch bereitzumachen. Als ich dann vollständig angezogen aus der Türe trat, wichen meine Freunde offenbar erschrocken vor mir zurück. "Was hast Du hinter dem Kopf" riefen sie. Ich hatte schon seit dem Erwachen irgendetwas gefühlt, das mich hinderte den Kopf zurückzuneigen und tastete nun mit der Hand nach diesem Hindernis. Gerade riefen die Freunde, die sich schon ein wenig gesammelt hatten "Sei vorsichtig, verletze Dich nicht" als ich hinter meinem Kopf den Griff eines Schwertes erfaßte. Die Freunde kamen näher, untersuchten mich, führten mich ins Zimmer vor den Schrankspiegel und entkleideten meinen Oberkörper. Ein großes altes Ritterschwert mit kreuzartigem Griff steckte in meinem Rücken bis zum Heft, aber in der Weise, dass sich die Klinge unbegreiflich genau zwischen Haut und Fleisch geschoben und keine Verletzung herbeigeführt hatte. Aber auch an der Stelle des Einstoßes am Halse war keine Wunde, die Freunde versicherten, dass sich dort völlig blutleer und trocken der für die Klinge notwendige Spalt geöffnet habe. Und als jetzt die Freunde auf Sessel stiegen und langsam millimeterweise das Schwert hervorzogen, kam kein Blut nach und die offene Stelle am Halse schloß sich bis auf einen kaum merklichen Spalt. "Hier hast Du Dein Schwert" sagten die Freunde lachend und reichten es mir. Ich wog es in beiden Händen, es war eine kostbare Waffe, Kreuzfahrer konnten sie wohl benützt haben. Wer duldete es, dass sich alte Ritter in den Träumen herumtrieben, verantwortungslos mit ihren Schwertern fuchtelten, unschuldigen Schläfern sie einbohrten und nur deshalb nicht schwere Wunden beibrachten, weil ihre Waffen zunächst wahrscheinlich an lebenden Körpern abgleiten und weil auch treue Freunde hinter der Tür stehn und hilfsbereit klopfen.


... auf Granit beißen: Siehe Zeitungsnotiz vom 19.1.1915.

Letzte Änderung: 19.1.2015werner.haas@univie.ac.at