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An Felice Bauer

9. August 15
 


Liebe Felice, ich habe in Deinem Sinne mit ihm gesprochen, ganz offen, und er hat mir auch offen geantwortet.

Ich sagte: "Warum schreibst Du nicht? Warum quälst Du F.? dass Du sie quälst, ist doch aus ihren Karten offensichtlich. Du versprichst zu schreiben und schreibst nicht. Du telegraphierst "Brief unterwegs", aber es ist kein Brief unterwegs, sondern er wird erst 2 Tage später geschrieben. Etwas derartiges dürfen vielleicht einmal und ausnahmsweise Mädchen machen, es kann unschuldig sein, wenn es zu ihrem Charakter gehört. Bei Dir aber ist es nicht unschuldig, denn Dein Schweigen kann nur ein Verschweigen bedeuten und deshalb nicht entschuldigt werden."

Er antwortete etwa: "Es kann doch entschuldigt werden, denn es gibt Verhältnisse, wo sich das Aussprechen vom Verschweigen wenig unterscheidet. Mein Leid ist etwa ein vierfaches:

Ich kann in Prag nicht leben. Ob ich anderswo leben kann, weiß ich nicht, dass ich aber hier nicht leben kann, ist das Zweifelloseste, was ich weiß.

Ferner: Ich kann deshalb F. jetzt nicht haben.

Ferner: Ich muß (es ist sogar schon gedruckt) fremder Leute Kinder bewundern.

Endlich: Manchmal glaube ich, ich werde von dieser allseitigen Quälerei zermahlen. Aber das augenblickliche Leid ist nicht das Schlimmste. Das Schlimmste ist, dass die Zeit vergeht, dass ich durch dieses Leid elender und unfähiger werde, die Aussichten für die Zukunft ununterbrochen trüber werden.

Ist das nicht genügend? Was ich etwa seit unserem vorletzten Beisammensein mit F. leide, kann sie nicht ahnen. Wochenlang fürchte ich mich, in meinem Zimmer allein zu sein. Wochenlang kenne ich Schlaf nur als Fieber. Ich fahre in ein Sanatorium und bin von der Narrheit dessen überzeugt. Was will ich dort? Gibt es dort etwa keine Nächte? Noch ärger, dort sind auch die Tage wie Nächte. Ich komme zurück und verbringe die erste Woche wie besinnungslos, denke an nichts als mein oder unser Unglück und weder im Bureau noch sonst im Gespräch begreife ich mehr als das Alleroberflächlichste, und dieses nur unter allen Schmerzen und Spannungen des Kopfes. Eine Art Blödsinn ergreift mich. War ich in Karlsbad nicht ähnlich? Und dabei erinnere ich mich jetzt an die letzte Nacht in Bodenbach, als ich um 4 Uhr die Decke über mich zog. Ich dachte: jetzt ist F. hier - ich habe sie - 2 ganze Tage - dieses Glück! Und dann kam Karlsbad und die - ich sage auch das - wahrhaft abscheuliche Fahrt nach Aussig.

Damit ist nicht viel aber einiges gesagt. Das könnte ich auch F. schreiben. Was sie antworten würde, wäre im Grunde kurz: "Du bist selbst schuld." Es wäre zwecklos, eine solche Antwort hervorzurufen, darum schreibe ich nicht. Wäre mir etwas Neues geschehn, ich hätte ihr natürlich gleich geschrieben, aber dieses Alte, in den letzten Monaten allerdings ungeheuerlich gewordene kennt sie, oder vielmehr, sie hat davon gehört. Ein Heilmittel weiß ich ja nicht. Etwa nächsten Sonntag in Bodenbach zusammenkommen? Es wäre kein Heilmittel.

Es ist so merkwürdig. F. schreibt ganz anders als sie spricht. Würde sie so sprechen wie sie schreibt, es wäre alles anders, ich sage nicht, dass es besser wäre, aber alles wäre anders. Sie sagt, dass ich mich an Worte halte, möglich, aber sie tut es gewiß noch mehr. Hätte ich das, was ich jetzt gesagt habe, z. B. F. gegenüber gesagt, so würde sie wahrscheinlich antworten: "Nun sieh, wie Du bist. In Bodenbach zusammenkommen nennst Du kein Heilmittel. Und Du sagst, es wäre nicht besser, wenn ich so sprechen würde, wie ich schreibe: " Unbekümmert darum behaupte ich: "Wenn ich voriges Jahr in einem ähnlichen Zustand gewesen wäre, wie jetzt (er war anders, wenn auch nicht weniger unerträglich), dann wäre F. zweifellos heute in Prag, das zweite Leid wäre beseitigt und vielleicht das dritte, aber das erste und die Hälfte des vierten so angewachsen, dass es uns alle begraben hätte."

So spricht er, und sein Aussehn bestätigt seinen Zustand. Er ist im Fieber, vollkommen unbeherrscht und zerstreut. Augenblicklich scheint es nur zwei Heilmittel für ihn zu geben, Heilmittel, nicht in dem Sinn, dass sie das Vergangene ungeschehn machen, sondern ihn vor Weiterem bewahren könnten. Das eine wäre F., das andere der Militärdienst. Beide sind ihm entzogen. Ich konnte ihm schließlich darin nicht Unrecht geben, wenn er nicht schreibt. Richtet er mit dem Schreiben nicht mehr Kummer an als mit Schweigen?

Herzlich Franz


Den angekündigten Brief wegen der Berliner Reise habe ich nicht bekommen. Er hätte aber vorläufig auch nur für einen Sonntag Bedeutung, da allen Reklamierten neuestens ihr Urlaub genommen worden ist.




ich ... er: Vgl. die Ich-Er-Form des Dialogs in diesem Brief mit der Form der >Er<-Betrachtungen im Band Beschreibung eines Kampfes (S. 291 ff.), deren autobiographische Natur durch diesen Brief noch deutlicher wird. Dies gilt auch von anderen Betrachtungen, die Kafka in die >Er<-Form faßte, ja sogar vom Ende des Romans Der Prozeß, wo der Autor, wie die Handschrift der letzten Seite zeigt, von der dritten Person unvermittelt in die erste überging. Vgl. Heinz Politzer "Ein Kafka-Autograph", in Die Schrift, Brünn, I, 1935, S. 94 ff.


es ist sogar schon gedruckt: Gemeint ist das in den Band Betrachtung aufgenommene Stück "Das Unglück des Junggesellen".


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at