Voriger Eintrag Jahresübersicht | IndexseiteNächster Eintrag

[Tagebuch, 5. Dezember 1914; Samstag]

5. XII 14

Ein Brief von Erna über die Lage ihrer Familie. Mein Verhältnis zu der Familie bekommt für mich nur dann einen einheitlichen Sinn, wenn ich mich als das Verderben der Familie auffasse. Es ist die einzige organische, alles Erstaunliche glatt überwindende Erklärung, die es gibt. Es ist auch die einzige tätige Verbindung, die augenblicklich von mir aus mit der Familie besteht, denn im übrigen bin ich gefühlsmäßig gänzlich von ihr abgetrennt, allerdings nicht durchgreifender, als vielleicht von der ganzen Welt. (Ein Bild meiner Existenz in dieser Hinsicht gibt eine nutzlose, mit Schnee und Reif überdeckte, schief in den Erdboden leicht eingebohrte Stange auf einem bis in die Tiefe aufgewühlten Feld am Rande einer großen Ebene in einer dunklen Winternacht.) Nur das Verderben wirkt. Ich habe F. unglücklich gemacht, die Widerstandskraft aller, die sie jetzt so benötigen, geschwächt, zum Tode des Vaters beigetragen, F. und E. auseinandergebracht und schließlich auch E. unglücklich gemacht, ein Unglück, das aller Voraussicht nach noch fortschreiten wird. Ich bin davor gespannt und bestimmt es vorwärtszubringen. Meinen letzten Brief an sie, den ich mir abgequält habe, hält sie für ruhig; er "atmet so viel Ruhe" wie sie sich ausdrückt. Hiebei ist es allerdings nicht ausgeschlossen, dass sie sich aus Zartgefühl, aus Schonung, aus Sorge um mich so ausdrückt. Ich bin ja innerhalb des Ganzen genügend bestraft, schon meine Stellung zu der Familie ist Strafe genug, ich habe auch derartig gelitten, dass ich mich davon niemals erholen werde (mein Schlaf, mein Gedächtnis, meine Denkkraft, meine Widerstandskraft gegen die winzigsten Sorgen sind unheilbar geschwächt, sonderbarerweise sind das etwa die gleichen Folgen wie sie lange Gefängnisstrafen nach sich ziehn) aber augenblicklich leide ich wenig durch meine Beziehung zu der Familie, jedenfalls weniger als F. oder E. Etwas Quälendes liegt allerdings darin, dass ich jetzt mit E. eine Weihnachtsreise machen soll, während F. etwa in Berlin bleibt.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at