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[Tagebuch, 15. Oktober 1914; Donnerstag]

15 (Oktober 1914) 14 Tage, gute Arbeit zum Teil, vollständiges Begreifen meiner Lage. - Heute Donnerstag (Montag ist mein Urlaub zu Ende ich habe noch eine weitere Woche Urlaub genommen) Brief von Frl. Bl. Ich weiß nicht was damit anfangen, ich weiß, dass es so bestimmt ist, dass ich allein bleibe (wenn ich überhaupt bleibe, was gar nicht bestimmt ist) ich weiß auch nicht ob ich F. lieb habe (ich denke an meinen Widerwillen bei ihrem Anblick als sie tanzte mit strengem gesenktem Blick oder als sie kurz vor dem Weggehn im Askan. Hof mit der Hand über die Nase und in die Haare fuhr und die unzähligen Augenblicke vollständigster Fremdheit) aber trotz allem tritt wieder die unendliche Verlockung ein, ich habe mit dem Brief den ganzen Abend über gespielt, die Arbeit stockt, trotzdem ich mich (allerdings bei quälenden Kopfschmerzen, die ich schon die ganze Woche über habe) zu ihr fähig fühle. Ich schreibe noch den Brief aus dem Gedächtnis auf, den ich Frl. Bl. geschrieben habe:

"Es ist ein sonderbares Zusammentreffen Frl. Grete, dass ich Ihren Brief gerade heute bekam. Ich will das, womit er zusammengetroffen ist, nicht nennen, es betrifft nur mich und die Gedanken, die ich mir machte, als ich mich heute nachts etwa gegen 3 Uhr ins Bett legte. (Selbstmord, Brief an Max mit vielen Aufträgen)

Ihr Brief überrascht mich sehr. Es überrascht mich nicht, dass Sie mir schreiben. Warum sollten Sie mir nicht schreiben? Sie schreiben zwar, dass ich Sie hasse, es ist aber nicht wahr. Wenn Sie alle hassen sollten, ich hasse Sie nicht und nicht nur deshalb, weil ich kein Recht dazu habe. Sie sind zwar im Askanischen Hof als Richterin über mir gesessen, es war abscheulich für Sie, für mich, für alle - aber es sah nur so aus, in Wirklichkeit bin ich auf Ihrem Platz gesessen und bin noch bis heute dort.

In F. täuschen Sie sich vollständig. Ich sage das nicht um Einzelheiten herauszulocken. Ich kann mir keine Einzelheit denken - und meine Einbildungskraft hat sich in diesen Kreisen schon viel herumgejagt, so dass ich ihr vertraue - ich sage, ich kann mir keine Einzelheit denken, die mich davon überzeugen könnte, dass Sie sich nicht täuschen. Das was Sie andeuten ist vollständig unmöglich, es macht mich unglücklich zu denken, dass F. aus irgendeinem unerfindlichen Grunde etwa sich selbst täuschen sollte. Aber auch das ist unmöglich.

Ihre Anteilnahme habe ich immer für wahr und gegen sich selbst rücksichtslos gehalten. Auch den letzten Brief zu schreiben, ist Ihnen nicht leicht geworden. Ich danke Ihnen dafür herzlich. "

Was ist damit getan? Der Brief sieht unnachgiebig aus, aber nur deshalb weil ich mich schämte, weil ich es für unverantwortlich hielt, weil ich mich fürchtete nachgiebig zu sein, nicht etwa, weil ich es nicht wollte. Ich wollte sogar nichts anderes. Es wäre für uns alle das beste wenn sie nicht antworten würde, aber sie wird antworten und ich werde auf ihre Antwort warten.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at