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[Tagebuch, 29. Juli 1914; Mittwoch]

29. VII (1914) Die zwei Freunde, der eine blond, Richard Strauß ähnlich, lächelnd, zurückhaltend, gewandt, der andere dunkel, korrekt angezogen, sanft und fest, allzu geschmeidig, lispelt, beide genießerisch, trinken immerfort Wein, Kaffee, Bier, Schnaps, rauchen ununterbrochen, einer gießt dem andern ein, ihr Zimmer dem meinigen gegenüber voll französischer Bücher, schreiben viel bei schönem Wetter im dumpfen Schreibzimmer.

Josef K., der Sohn eines reichen Kaufmanns, ging eines abends nach einem großen Streit den er mit seinem Vater gehabt hatte - der Vater hatte ihm sein liederliches Leben vorgeworfen und dessen sofortige Einstellung verlangt - ohne eine bestimmte Absicht nur in vollständiger Unsicherheit und Müdigkeit in das Haus der Kaufmannschaft, das von allen Seiten frei in der Nähe des Hafens stand. Der Türhüter verneigte sich tief. Josef sah ihn ohne Gruß flüchtig an. "Diese stummen untergeordneten Personen machen alles, was man von ihnen voraussetzt" dachte er. "Denke ich, dass er mich mit unpassenden Blicken beobachtet so tut er es wirklich. " Und er drehte sich nochmals wieder ohne Gruß nach dem Türhüter um; dieser wandte sich zur Straße und sah zum wolkenbedeckten Himmel auf.

Ich war ganz ratlos. Noch vor einem Weilchen hatte ich gewußt, was zu tun war. Der Chef hatte mich mit ausgestreckter Hand bis zur Tür des Geschäftes gedrängt. Hinter den zwei Pulten standen meine Kollegen, angebliche Freunde, die grauen Gesichter ins Dunkel gesenkt, um den Gesichtsausdruck zu verbergen. "Hinaus" rief der Chef, "Dieb! Hinaus! Ich sage: Hinaus! " "Es ist nicht wahr" rief ich zum hundertsten mal "ich habe nicht gestohlen! Es ist ein Irrtum oder eine Verläumdung! Rühren Sie mich nicht an! Ich werde Sie klagen! Es gibt noch Gerichte! Ich gehe nicht! Fünf Jahre habe ich Ihnen gedient wie ein Sohn und jetzt werde ich als Dieb behandelt. Ich habe nicht gestohlen, ich habe nicht gestohlen, hören Sie doch um Himmelswillen, ich habe nicht gestohlen." "Kein Wort mehr" sagte der Chef. "Sie gehn!" Wir waren schon bei der Glastür, ein Lehrjunge, der früher hinausgelaufen war, öffnete sie eilig, das eindringende Geräusch der allerdings abgelegenen Straße machte mich den Tatsachen zugänglicher, ich blieb in der Tür stehn, die Elbogen in den Hüften, und sagte nur, bei aller Atemlosigkeit möglichst ruhig: "Ich will meinen Hut. " "Den sollen Sie haben" sagte der Chef, gieng paar Schritte zurück, nahm den Hut von dem Kommis Grasmann, der sich über den Pult geschwungen hatte, entgegen, wollte ihn mir zuwerfen, verfehlte aber die Richtung, warf auch mit zu großer Kraft so dass der Hut an mir vorüber auf die Fahrbahn flog. "Der Hut gehört jetzt ihnen" sagte ich und gieng auf die Straße hinaus. Und nun war ich ratlos. Ich hatte gestohlen, hatte aus der Ladenkasse einen Fünf-Guldenschein gezogen, um abends mit Sophie ins Teater gehn zu können. Sie wollte gar nicht ins Teater gehn, in 3 Tagen war Gehaltsauszahlung, dann hätte ich eigenes Geld gehabt, außerdem hatte ich den Diebstahl unsinnig ausgeführt, bei hellem Tag, neben dem Glasfenster des Kontors, hinter dem der Chef saß und mir zusah. "Dieb! " schrie er und sprang aus dem Kontor. "Ich habe nicht gestohlen" war mein erstes Wort, aber die Fünfguldennote war in meiner Hand und die Kassa war offen.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at