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[Tagebuch, 12. Juni 1914; Freitag]

12 VI 14

Kubin. Gelbliches Gesicht, flach über den Schädel gelagertes weniges Haar, von Zeit zu Zeit angestachelter Glanz in den Augen. Angst wegen der Ansteckung, er hat sie unten geküßt, er sieht sich schon zerfallen, spricht vom "geliebten Weib" dem er dieses Unglück mitbringt. Greift die dümmste Beruhigung selig auf und entwindet sich ihr nach einem Weilchen sehr klug. - Wolfskehl, halb blind, Netzhautablösung, muß sich vor Fall oder Stoß hüten, sonst kann die Linse herausfallen dann ist alles zu Ende. Muß das Buch beim Lesen knapp an die Augen halten und aus dem Augenwinkel die Buchstaben zu erhaschen suchen. War mit Melchior Lechter in Indien, erkrankte an Dysenterie, ißt alles, jedes Obst, das er auf der Straße im Staub liegen sieht. - Pachinger hat einer Leiche einen silbernen Keuschheitsgürtel abgesägt, hat die Arbeiter, welche sie ausgegraben haben, irgendwo in Rumänien, beiseitegeschoben, hat sie mit der Bemerkung beruhigt, dass er hier eine wertlose Kleinigkeit sehe, die er sich als Andenken mitnehmen wolle, hat den Gürtel aufgesägt und vom Gerippe heruntergerissen. Findet er in einer Dorfkirche eine wertvolle Bibel oder ein Bild oder ein Blatt das er haben will, so reißt er, was er will, aus Büchern, von den Wänden, vom Altar, legt als Gegengabe ein 2hellerstück hin und ist beruhigt. - Liebe zu dicken Weibern. Jede Frau, die er hatte, wird photographiert. Stoß von Photographien, den er jedem Besucher zeigt. Sitzt in der einen Sophaecke, der Besucher, von ihm weit entfernt, in der andern. Pachinger sieht kaum hin und weiß doch immer, welche Photographie an der Reihe ist und gibt danach seine Erklärungen: Das war eine alte Witwe, das waren die zwei ungarischen Dienstmädchen u. s. w. - Über Kubin: "Ja, Meister Kubin, Sie sind ja im Aufschwung, in 10 bis 20 Jahren können Sie, wenn es so anhält eine Stellung wie Bayros haben. "

Brief Dostojewskis an eine Malerin. Das gesellschaftliche Leben geht im Kreis vor sich. Nur die mit einem bestimmten Leiden Behafteten verstehn einander. Sie bilden kraft der Natur ihres Leidens einen Kreis und unterstützen sich. Sie gleiten an den innern Rändern ihres Kreises entlang, lassen einander den Vorrang oder schieben im Gedränge einer sanft den andern. Jeder spricht dem andern zu in der Hoffnung einer Rückwirkung auf sich oder, dann geschieht es leidenschaftlich, im unmittelbaren Genuß dieser Rückwirkung. Jeder hat nur die Erfahrung, die ihm sein Leiden gestattet, trotzdem hört man unter solchen Genossen den Austausch ungeheuerlich verschiedenartiger Erfahrungen. "Du bist so" sagt einer zum andern "statt zu klagen, danke Gott dafür dass Du so bist, denn wärest Du nicht so dann wärest Du in diesem oder jenem Unglück, in dieser oder jener Schande. " Woher weiß das nun dieser Mann? Er gehört doch, das verrät dieser Ausspruch, zu dem gleichen Kreis wie der Angesprochene, seine Trostbedürftigkeit ist gleicher Art. Im gleichen Kreis weiß man aber immer das Gleiche. Es gibt nicht den Hauch eines Gedankens, den der Tröstende vor dem Getrösteten voraus hätte. Ihre Gespräche sind daher nur Vereinigungen der Einbildungskraft, Übergüsse der Wünsche von einem auf den andern. Einmal sieht der eine zu Boden, und der andere einem Vogel nach, in solchen Unterschieden spielt sich ihr Verkehr ab. Einmal einigen sie sich im Glauben und sehen beide Kopf an Kopf in unendlichen Richtungen der Höhe. Erkenntnis ihrer Lage zeigt sich aber nur dann wenn sie gemeinsam die Köpfe senken und der gemeinsame Hammer auf sie niedergeht.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at