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[Tagebuch, 6. Mai 1914; Mittwoch]

6. V 14 Die Eltern scheinen eine schöne Wohnung für F. und mich gefunden zu haben, ich bin nutzlos einen schönen Nachmittag lang herumgestrichen. Ob sie mich auch noch ins Grab legen werden nach einem durch ihre Sorgfalt glücklichen Leben.

Ein Adeliger, namens Herr von Griesenau, hatte einen Kutscher Josef, den kein anderer Dienstgeber hätte ertragen können. Er wohnte in einem ebenerdigen Zimmer neben der Portierloge, da er infolge seiner Dicke und Kurzatmigkeit unfähig war, Treppen zu steigen. Seine einzige Beschäftigung war das Kutschieren, aber auch dazu wurde er nur bei besondern Gelegenheiten etwa einem Gast zu Ehren verwendet, sonst aber lag er ganze Tage ganze Wochen, auf einem Ruhebett in der Nähe des Fensters und sah mit seinen kleinen, tief ins Fett eingesenkten, auffallend schnell zwinkernden Augen aus dem Fenster auf die Bäume, welche

Der Kutscher Josef lag auf seinem Ruhebett, richtete sich nur auf um von einem Tischchen einen Schnitten Butterbrot mit Häring zu nehmen, lehnte sich dann wieder zurück und starrte kauend umher. Durch seine großen runden Nasenlöcher zog er die Luft mit Mühe ein, manchmal mußte er, um genug Luft zu gewinnen, im Kauen einhalten und den Mund öffnen, sein großer Bauch zitterte ununterbrochen unter den vielen Falten des dünnen dunkelblauen Kleides.

Das Fenster war geöffnet, man sah eine Akazie und einen leeren Platz. Es war ein niedriges Parterrefenster, Josef sah von seinem Ruhebett aus alles und jeder konnte ihn von außen sehn. Das war peinlich, aber er mußte so niedrig wohnen, da er wenigstens seit einem halben Jahr seitdem sein Fett stark zugenommen hatte, Treppen gar nicht mehr steigen konnte. Als er dieses Zimmer neben der Portierloge bekommen hatte, hatte er seinem Dienstgeber, dem Herrn von Griesenau, unter Tränen die Hände geküßt und gedrückt, jetzt aber kannte er die Nachteile dieses Zimmers - das ewige Beobachtetwerden, die Nachbarschaft des unangenehmen Portiers, die Unruhe der Einfahrt und des Platzes, die weite Entfernung von der übrigen Dienerschaft und die dadurch eintretende Entfremdung und Vernachlässigung - alle diese Nachteile kannte er jetzt von Grund aus und beabsichtigte auch tatsächlich beim Herrn wegen der Übersiedlung in sein früheres Zimmer bittstellig zu werden. Wozu standen denn insbesondere seitdem der Herr sich verlobt hatte, soviele neu aufgenommene Burschen nutzlos herum, mochten sie doch ihn, den verdienten und einzigartigen Mann, einfach die Treppen hinauf und hinuntertragen.

Es wurde eine Verlobung gefeiert. Das Festessen war beendet, die Gesellschaft stand vom Tische auf, alle Fenster wurden geöffnet, es war ein schöner warmer Abend im Juni. Die Braut stand in einem Kreise von Freundinnen und guten Bekannten, die übrigen waren in kleinen Gruppen beisammen, hie und da wurde viel gelacht. Der Bräutigam lehnte allein am Eingang zum Balkon und sah hinaus.

Nach einiger Zeit bemerkte ihn die Mutter der Braut, gieng zu ihm hin und sagte: "Du stehst hier so allein? Gehst nicht zu Olga? Habt Ihr Streit gehabt?" "Nein" antwortete der Bräutigam "wir haben keinen Streit gehabt. " "Nun also" sagte die Frau "dann geh zu Deiner Braut! Dein Benehmen fällt ja schon auf"

Das Grauenhafte des bloß Schematischen

Die Zimmervermieterin eine schwache schwarz gekleidete Witwe in gerade abfallendem Rock stand im mittleren Zimmer ihrer leeren Wohnung. Noch war es ganz still, die Glocke rührte sich nicht. Auf der Gasse war es auch still, die Frau hatte mit Absicht eine so stille Gasse gewählt, denn sie wollte gute Zimmerherren und solche, die Ruhe verlangen sind die besten.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at