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[Tagebuch, 24. Januar 1914; Samstag]

24. (Januar 1914) Napoleonische Zeit: Wie sich die Feste drängten, alle hatten Eile "die Freuden der kurzen Friedenszeiten auszukosten". "Andererseits übten die Frauen auf sie ihren Einfluß wie im Fluge aus, sie hatten wirklich keine Zeit zu verlieren. Die Liebe von damals äußerte sich in erhöhter Begeisterung und größerer Hingebung"... "Heutzutage hat eine schwache Stunde keine Entschuldigung mehr. "

Unfähig, ein paar Zeilen an Frl. Bl. zu schreiben, zwei Briefe waren schon unbeantwortet, heute kam der dritte. Ich fasse nichts richtig und bin dabei ganz fest, aber hohl. Letzthin, als ich wieder einmal zu regelmäßiger Stunde, aus dem Aufzug stieg, fiel mir ein, dass mein Leben mit seinen immer tiefer ins Detail sich uniformierenden Tagen den Strafarbeiten gleicht, bei denen der Schüler je nach seiner Schuld zehnmal, hundertmal oder noch öfter den gleichen zumindest in der Wiederholung sinnlosen Satz aufzuschreiben hat, nur dass es sich aber bei mir um eine Strafe handelt, bei der es heißt "so oft, als Du es aushältst".

Anzenbacher kann sich nicht beruhigen. Trotz des Vertrauens, das er zu mir hat und trotzdem er Rat von mir will, erfahre ich die schlimmsten Einzelheiten immer nur beiläufig während des Gespräches, wobei ich immer das plötzliche Staunen möglichst unterdrücken muß, nicht ohne das Gefühl, dass er meine Gleichgültigkeit gegenüber der schrecklichen Mitteilung entweder als Kälte empfinden muß, oder aber als große Beruhigung. So ist es auch gemeint. Die Kußgeschichte erfuhr ich in folgenden zum Teil durch Wochen getrennten Etappen: Ein Lehrer hat sie geküßt - sie war in seinem Zimmer - er hat sie mehrmals geküßt - sie war regelmäßig in seinem Zimmer, weil sie eine Handarbeit für A.' Mutter machte und die Lampe des Lehrers gut war - sie hat sich willenlos küssen lassen - früher schon hat er ihr eine Liebeserklärung gemacht - sie geht trotz allem noch mit ihm spazieren - wollte ihm ein Weihnachtsgeschenk machen einmal hat sie geschrieben, es ist mir etwas unangenehmes passiert, aber nichts zurückgeblieben.

A. hat sie in folgender Weise ausgefragt: Wie war es? Ich will es ganz genau wissen? Hat er Dich nur geküßt? Wie oft? Wohin? Ist er nicht auf Dir gelegen? Hat er Dich betastet? Wollte er Deine Kleider ausziehn~

Antworten: Ich saß auf dem Kanapee mit der Handarbeit, er an der andern Seite des Tisches. Dann kam er herüber, setzte sich zu mir und küßte mich, ich rückte von ihm weg zum Kanapeepolster und wurde mit dem Kopf auf das Polster gedrückt. Außer dem Küssen geschah nichts.

Während des Fragens sagte sie einmal: "Was denkst Du nur? Ich bin ein Mädchen. "

Jetzt fällt mir ein, dass mein Brief an Dr. Weiß so geschrieben war, dass er vollständig F. gezeigt werden konnte. Wie, wenn er es heute getan und deshalb seine Antwort verschoben hätte.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at