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[An Julie und Hermann Kafka]
...Insoferne aber bin ich mit Berlin nicht fertig, als ich glaube, dass
mich diese ganze Sache zu euerem und zu meinem Wohle (denn die sind ganz
gewiß eines) hindert, so weiter zu leben wie bisher. Seht, ein wirklich
schweres Leid habe ich euch vielleicht noch nicht gemacht, es müßte
denn sein, dass diese Entlobung ein solches ist, von der Ferne kann
ich es nicht so beurteilen. Aber eine wirkliche dauernde Freude habe ich
euch noch viel weniger gemacht und das, glaubt mir, nur aus dem Grunde,
weil ich selbst mir diese Freude nicht dauernd machen konnte. Warum das
so ist, wirst gerade Du, Vater, obwohl Du das Eigentliche, was ich will,
nicht anerkennen kannst, am leichtesten verstehn. Du erzählst manchmal,
wie schlecht es Dir in Deinen ersten Anfängen gegangen ist. Glaubst
Du nicht, dass das eine gute Erziehung zur Selbstachtung und Zufriedenheit
war? Glaubst Du nicht, übrigens hast Du es auch schon geradezu gesagt,
dass es mir zu gut gegegangen ist? Ich bin bis jetzt durchaus in Unselbständigkeit und äußerlichem Wohlbehagen
aufgewachsen. Glaubst Du nicht, dass das für meine Natur gar
nicht gut gewesen ist, so gütig und lieb es auch von allen war, die
dafür sorgten? Gewiß es gibt Menschen, die sich ihre Selbständigkeit
überall zu sichern verstehn, ich gehöre aber nicht zu ihnen.
Allerdings gibt es auch Menschen, die ihre Unselbständigkeit nirgends
verlieren, aber nachzuprüfen, ob ich zu diesen doch nicht gehöre,
scheint mir kein Versuch zu schade. Auch der Einwand, dass ich zu
einem solchen Versuch zu alt bin, gilt nicht. Ich bin jünger, als
es den Anschein hat. Es ist die einzig gute Wirkung der Unselbständigkeit,
dass sie jung erhält. Allerdings nur dann, wenn sie ein Ende
nimmt.
Im Bureau werde ich aber diese Besserung niemals erreichen können.
Überhaupt in Prag nicht. Hier ist alles darauf angelegt, mich, den
im Grunde nach Unselbständigkeit verlangenden Menschen, darin zu erhalten.
Es wird mir alles so nahe angeboten. Das Bureau ist mir sehr lästig
und oft unerträglich, aber im Grunde doch leicht. Ich verdiene auf
diese Weise mehr als ich brauche. Wozu? Für wen?
Ich werde auf der Gehaltsleiter weitersteigen. Zu welchem Zweck? Mir ist
diese Arbeit nicht entsprechend und bringt sie mir nicht einmal Selbständigkeit
als Lohn, warum werfe ich sie nicht weg? Ich habe nichts zu riskieren und
alles zu gewinnen, wenn ich kündige und von Prag fortgehe. Ich riskiere
nichts, denn mein Leben in Prag führt zu nichts Gutem. Ihr vergleicht
mich manchmal zum Spaß mit Onkel R. Aber gar zu
weit führt mich mein Weg von ihm nicht ab, wenn ich in Prag bleibe.
Ich werde voraussichtlich mehr Geld, mehr Interessen und weniger Glauben
haben als er, ich werde dementsprechend unzufriedener sein, viel mehr Unterschiede
wird es kaum geben. - Ich kann außerhalb Prags alles gewinnen, das
heißt ich kann ein selbständiger ruhiger Mensch werden, der
alle seine Fähigkeiten ausnützt und als Lohn guter und wahrhaftiger
Arbeit das Gefühl wirklichen Lebendigseins und dauernder Zufriedenheit
bekommt. Ein solcher Mensch wird sich - es wird nicht der kleinste Gewinn
sein - auch zu euch besser stellen. Ihr werdet einen Sohn haben, dessen
einzelne Handlungen ihr vielleicht nicht billigen werdet, mit dem ihr aber
im Ganzen zufrieden sein werdet, denn ihr werdet euch sagen müssen:
'Er tut, was er kann.' Dieses Gefühl habt ihr heute nicht, mit Recht.
Die Ausführung meines Planes denke ich mir so: Ich habe fünftausend
Kronen. Sie ermöglichen mir, irgendwo in Deutschland in Berlin oder
München zwei Jahre, wenn es sein muß, ohne Geldverdienst zu
leben. Diese zwei Jahre ermöglichen mir, literarisch zu arbeiten und
das aus mir herauszubringen, was ich in Prag zwischen innerer Schlaffheit
und äußerer Störung in dieser Deutlichkeit, Fülle
und Einheitlichkeit nicht erreichen könnte. Diese literarische Arbeit
wird es mir ermöglichen, nach diesen zwei Jahren von eigenem Verdienst
zu leben und sei es auch noch so bescheiden. Sei es aber
auch noch so bescheiden, es wird unvergleichlich sein zu dem Leben, das
ich jetzt in Prag führe und das mich dort für späterhin
erwartet. Ihr werdet einwenden, dass ich mich in meinen Fähigkeiten
und in der durch diese Fähigkeiten zu bildenden Erwerbsmöglichkeit
täusche. Gewiß, das ist nicht ausgeschlossen. Nur spricht dagegen,
dass ich einunddreißig Jahre alt bin und derartige Täuschungen
in einem solchen Alter nicht in Rechnung gezogen werden können, sonst
wäre jedes Rechnen unmöglich, ferner spricht dagegen, dass
ich schon einiges, wenn auch wenig, geschrieben habe, das halbwegs Anerkennung
gefunden hat, endlich aber wird der Einwand dadurch aufgehoben, dass
ich durchaus nicht faul und ziemlich bedürfnislos bin und daher, wenn
auch eine Hoffnung mißlingen sollte, eine andere Erwerbsmöglichkeit
finden und jedenfalls euch nicht in Anspruch nehmen werde, denn das wäre
allerdings sowohl in der Wirkung auf mich als auf euch noch viel ärger
als das gegenwärtige Leben in Prag, ja es wäre gänzlich
unerträglich.
Meine Lage scheint mir danach klar genug zu sein, und ich bin begierig,
was ihr dazu sagen werdet. Denn wenn ich auch die Überzeugung habe,
dass es das einzig Richige ist und dass ich, wenn ich die Ausführung
dieses Planes versäume, etwas Entscheidendes versäume, - so ist
es mir doch natürlich sehr wichtig zu wissen, was ihr dazu sagt.
Mit den herzlichsten Grüßen Euer Franz.
Text nach FK 131 - 133. Einige Überlegungen dieses Brieffragments
kehren (sogar bis in einzelne Formulierungen) im fünf Jahre später
geschriebenen Brief an den Vater wieder. Der Plan den Kafka vorträgt,
war einer der vielen, von Prag loszukommen.
Unselbständigkeit: Vgl. den längeren Tagebucheintrag
vom 9. März 1914 (T 364 ff.), in Teilen förmlich schon ein Entwurf
dieses Briefes.
mehr als ich brauche: Vgl. F 630 und 633.
Onkel R.: Onkel Rudolf Löwy (Stiefbruder der Mutter,
Buchhalter am Košiřer Bräuhaus, der merkwürdigste und
verschlossenste Okel Kafkas, Jungeselle, konvertierte und entwickelte sich,
wie Kafka schreibt, immer mehr zu einem "unenträtselbaren, überfreundlichen,
überbescheidenen, einsamen und dabei fast geschwätzigen Menschen".
(Br 361, vgl. 415, T 199 u. 558 f.)
und sei es auch noch so bescheiden: Ein Plan offenbar
seit 1912, vgl. T 489 und F 535.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at