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Frau Julie Kafka an Frau Anna Bauer


[Monogramm am Kopf des Bogens >H.K.<]

Prag, 7.8. 1914
 

Meine liebe Anna!

Auf Deinen lieben Brief bin ich Dir schon lange Antwort schuldig, aber ich bin sicher, dass Du mir verzeihen wirst, denn bei diesen schlimmen Zeiten hat man so viele Sorgen und mein Kopf ist so benommen, dass ich keines richtigen Gedankens fähig bin. Unsere beiden Schwiegersöhne sind eingerückt, unsere Tochter Elly wohnt mit ihren beiden Kindern bei uns in Franzens Zimmer und Franz hat sich in der Wohnung Peppos in der Bilek-Gasse einquartiert, da die Vally mit dem Kinde noch bei ihren Schwiegereltern in Böhmisch-Brod weilt. Ist Euer Schwiegersohn kein Soldat? Habt Ihr niemanden aus Euerer Mischpoke beim Militär? Bei uns in Prag sieht es sehr traurig aus. Wir haben wohl das Geschäft offen, man sieht aber den ganzen Tag keine Kundschaft. Es ist uns aber alles gleichgiltig, wenn nur unsere lieben Kinder wieder bald gesund zurückkehren. Die Angelegenheit mit Franz ist natürlich dadurch in den Hintergrund getreten. Auch uns kostet die Sache Geld, denn wir müssen für ½ Jahr die Wohnung bezahlen. Was machen alle Deine Kinder? Sind sie noch auf Urlaub, oder was wahrscheinlicher ist, schon wieder in Berlin? Dieses Jahr haben sich die Sonnnerfrischen nicht rentiert, denn bei der Panik kam alles von Kurorten Seebädern u. Sommerfrischen retour. Wie geht es der lieben Tante Emilie? Sie wohnt wahrscheinlich noch bei Euch. Dein lieber Karl ist wohl jetzt auch zu Hause, denn die Geschäfte liegen bei diesen Zeiten alle brach darnieder. Ich lese jetzt fast keine Zeitung, denn je mehr man liest desto nervöser wird man. Von unseren Schwiegersöhnen hatten wir bis zum Dritten dieses [Monats] noch immer Bericht, aber seit der Zeit lassen sie nichts mehr von sich hören, wahrscheinlich sind sie aus dem Orte wo sie einrückten abmarschiert, und nicht überall ist Postverbindung. Dadurch sind unsere Töchter noch mehr aufgeregt. Feldsorgen lassen sich nicht aussorgen. Wir müssen alles dem Allmächtigen überlassen. Dein versprochener Besuch bei uns ist wahrscheinlich in Folge des Krieges aufgeschoben, aufgehoben darf er nicht werden, Du must Wort halten und zu uns kommen. Du wirst von uns allen mit offenen Armen empfangen werden.

Und nunn lebe wohl, grüße mir alle Deine Lieben aufs herzlichste und sei freundschaftlichst umarmt von

Deiner Julie Kafka


Von meinem l. Alten u. allen Kindern folgen die besten Grüße.




Peppos: Kafkas Schwager, Josef Pollak.


Mischpoke: Hebräisch jiddisch: Verwandtschaft.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at