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Franz Kafka an Felicens Mutter, Frau Anna Bauer

24. VI. 14
 


Liebe Mutter!

Deine Karte habe ich erst spät bekommen. Was nicht in mein Bureau, sondern in die Wohnung adressiert ist, kommt ins Geschäft, wo es, besonders wenn die Mutter nicht da ist, verlegt wird und nur durch Zufall wieder einmal hervorkommt. In der Zwischenzeit höre ich dann Gerüchte, dass eine Karte für mich angekommen ist, die man zwar gelesen hat, deren Inhalt man aber nicht genau kennt. So war es auch mit Deiner Karte, liebe Mutter. Vielen Dank für Deine freundliche Aufmerksamkeit, der Brief an Felice enthielt zwar Wichtiges wie immer, aber nichts Dringendes, er konnte liegen bleiben.

Deine Bemerkung über den erwarteten und nicht gekommenen Brief hat mich traurig gemacht. Natürlich bist Du im Recht, das ist selbstverständlich. Ihr habt meine Eltern und die Schwester und mich über alle Vorstellung hinaus schön und lieb empfangen und bewirtet und behandelt. Ich hatte allen Grund, Euch von Herzen dankbar zu sein und es Euch zu sagen und zu schreiben. Ich habe es nicht getan.Warum? Siehst Du, liebe Mutter, hier ist einer der Fehler, die ich habe, mit denen Du nie einverstanden sein wirst. Es handelt sich auch in diesem Fall nicht gerade nur um das Schreiben, das weiß ich sehr wohl, trotzdem sogar das Schreiben hier durchaus nicht nur Sache der Form, sondern Sache des Herzens gewesen wäre. Trotzdem - ich bin nicht schlechter als einer, der geschrieben hätte, glaube mir.

Und nun küsse ich Dir herzlichst die Hand und bitte Dich, alle die Deinigen von mir zu grüßen, in Berlin und auswärts.

Dein Franz


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at