Voriger Eintrag Jahresübersicht | IndexseiteNächster Eintrag

 

An Grete Bloch

11. VI. 14
 


Liebes Fräulein Grete, ein merkwürdiger, ein durchaus merkwürdiger Brief.

Sie glauben nicht, dass es schon besser ist und machen mir dadurch, natürlich gegen Ihre Absicht, weitere Angst, "ohne die Gründe nennen zu können". Allerdings bei meiner Natur an sich das beste Mittel, mir die Angst zu nehmen, wenn nicht eben zwar sichtbare aber undurchdringliche Gründe für die äußerste Unruhe vorhanden wären.

Dann aber im Widerspruch zum ersten Satz: Sie finden keinen Glauben zur Notwendigkeit meines Zustandes. Sehen Sie doch von den erkennbaren Eigentümlichkeiten, die mich als einzelnen Menschen charakterisieren, ab und nehmen Sie das Ganze als einen typischen Fall. Ein durch seine Lebensumstände und durch seine Natur gänzlich unsocialer Mensch, mit nicht festem augenblicklich schwer zu beurteilendem Gesundheitszustand, durch sein nichtzionistisches (ich bewundere den Zionismus und ekle mich vor ihm) und nichtgläubiges Judentum von jeder großen, tragenden Gemeinschaft ausgeschieden, durch die Zwangsarbeit des Bureaus in seinem besten Wesen unaufhörlich auf das quälendste erschüttert - ein solcher Mensch entschließt sich, allerdings unter dem stärksten innersten Zwang, zum Heiraten, also zur socialsten Tat. Das scheint mir nicht wenig für einen solchen Menschen.

Und schließlich kommt in Ihrem Brief diese Grobheit, die mir übrigens als solche eine wahre Freude gemacht hat: "drei Monate werden Sie doch noch erleben können". Aber Fräulein Grete, wenn man sagt, dass die 3 Monate zu lang sind, so sagt man doch damit, richtig verstanden, gleichzeitig auch, dass sie zu kurz sind. Das ist es.

Sie fragten letzthin nach Ottla. Es geht ihr gut, trotzdem sie den ganzen Tag im Geschäft ist. Denn ihre Gedanken sind nicht im Geschäft, sondern ausschließlich in der Blindenanstalt, wo sie seit paar Wochen, insbesondere seit den letzten 14 Tagen, einige gute Freunde und einen allerbesten hat. Ein junger Korbflechter, dessen eines Auge geschlossen und dessen anderes Auge riesenhaft aufgequollen ist. Das ist ihr bester Freund, er ist zart, verständig und treu. Sie besucht ihn an Sonn- und Feiertagen und liest ihm vor, möglichst lustige Sachen. Ein allerdings etwas gefährliches und schmerzliches Vergnügen. Was man sonst mit Blicken ausdrückt, zeigen die Blinden mit den Fingerspitzen. Sie befühlen das Kleid, fassen den Ärmel an, streicheln die Hände, und dieses große, starke, von mir leider, wenn auch ohne Schuld, vom richtigen Weg ein wenig abgelenkte Mädchen nennt das ihr höchstes Glück. Weiß, wie sie sagt, erst dann, warum sie glücklich aufwacht, wenn sie sich an die Blinden erinnert. Sammelt die ganze Woche Cigarren und Cigaretten (spart dafür Geld vom Essen), um sie Sonntag den Blinden zu überreichen, hat sogar irgendwo eine alte Cigarrentasche aufgetrieben, die sie heute hintragen wird. Mit den blinden Mädchen verkehrt sie nicht, auch die blinden Freunde verkehren nicht mit den blinden Mädchen, sie sind, wie sie sagen, zu hochmütig. "Unsere weiblichen Pfleglinge sind zu hochmütig".

Über solchen Beschäftigungen hat Ottla bis heute versäumt, nach Berlin zu schreiben. Sie weiß keine Anrede. "Liebe Eltern" kann sie nicht schreiben, da stimme ich zu. Aber auch "Meine Lieben" kann sie nicht schreiben, denn so schreibt immer eine alte, verwitwete, süßliche, sehr brave, aber ohne Orthographie dahinlebende, körperlich ungeheuere, von widerlichen Schmerzen, die niemand glaubt, geplagte Tante, unter der man die Ansprache "Meine Lieben", die ihr gehört, förmlich erst wegziehn müßte. Wissen Sie keinen Rat?


Herzlichste Grüße Ihres FranzK.


[Am Rande] Die Karte von der Schloßbrücke habe ich nicht bekommen. Was stand auf ihr?


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at