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An Grete Bloch
Liebes Fräulein Grete, ein merkwürdiger, ein durchaus merkwürdiger
Brief.
Sie glauben nicht, dass es schon besser ist und machen mir dadurch,
natürlich gegen Ihre Absicht, weitere Angst, "ohne die Gründe
nennen zu können". Allerdings bei meiner Natur an sich das beste
Mittel, mir die Angst zu nehmen, wenn nicht eben zwar sichtbare aber undurchdringliche
Gründe für die äußerste Unruhe vorhanden wären.
Dann aber im Widerspruch zum ersten Satz: Sie finden keinen Glauben zur
Notwendigkeit meines Zustandes. Sehen Sie doch von den erkennbaren Eigentümlichkeiten,
die mich als einzelnen Menschen charakterisieren, ab und nehmen Sie das
Ganze als einen typischen Fall. Ein durch seine Lebensumstände und
durch seine Natur gänzlich unsocialer Mensch, mit nicht festem augenblicklich
schwer zu beurteilendem Gesundheitszustand, durch sein nichtzionistisches
(ich bewundere den Zionismus und ekle mich vor ihm) und nichtgläubiges
Judentum von jeder großen, tragenden Gemeinschaft ausgeschieden,
durch die Zwangsarbeit des Bureaus in seinem besten Wesen unaufhörlich
auf das quälendste erschüttert - ein solcher Mensch entschließt
sich, allerdings unter dem stärksten innersten Zwang, zum Heiraten,
also zur socialsten Tat. Das scheint mir nicht wenig für einen solchen
Menschen.
Und schließlich kommt in Ihrem Brief diese Grobheit, die mir übrigens
als solche eine wahre Freude gemacht hat: "drei Monate werden Sie
doch noch erleben können". Aber Fräulein Grete, wenn man
sagt, dass die 3 Monate zu lang sind, so sagt man doch damit, richtig
verstanden, gleichzeitig auch, dass sie zu kurz sind. Das ist es.
Sie fragten letzthin nach Ottla. Es geht ihr gut, trotzdem sie den ganzen
Tag im Geschäft ist. Denn ihre Gedanken sind nicht im Geschäft,
sondern ausschließlich in der Blindenanstalt, wo sie seit paar Wochen,
insbesondere seit den letzten 14 Tagen, einige gute Freunde und einen allerbesten
hat. Ein junger Korbflechter, dessen eines Auge geschlossen und dessen
anderes Auge riesenhaft aufgequollen ist. Das ist ihr bester Freund, er
ist zart, verständig und treu. Sie besucht ihn an Sonn- und Feiertagen
und liest ihm vor, möglichst lustige Sachen. Ein allerdings etwas
gefährliches und schmerzliches Vergnügen. Was man sonst mit Blicken
ausdrückt, zeigen die Blinden mit den Fingerspitzen. Sie befühlen
das Kleid, fassen den Ärmel an, streicheln die Hände, und dieses
große, starke, von mir leider, wenn auch ohne Schuld, vom richtigen
Weg ein wenig abgelenkte Mädchen nennt das ihr höchstes Glück.
Weiß, wie sie sagt, erst dann, warum sie glücklich aufwacht,
wenn sie sich an die Blinden erinnert. Sammelt die ganze Woche Cigarren
und Cigaretten (spart dafür Geld vom Essen), um sie Sonntag den Blinden
zu überreichen, hat sogar irgendwo eine alte Cigarrentasche aufgetrieben,
die sie heute hintragen wird. Mit den blinden Mädchen verkehrt sie
nicht, auch die blinden Freunde verkehren nicht mit den blinden Mädchen,
sie sind, wie sie sagen, zu hochmütig. "Unsere weiblichen Pfleglinge
sind zu hochmütig".
Über solchen Beschäftigungen hat Ottla bis heute versäumt,
nach Berlin zu schreiben. Sie weiß keine Anrede. "Liebe Eltern"
kann sie nicht schreiben, da stimme ich zu. Aber auch "Meine Lieben"
kann sie nicht schreiben, denn so schreibt immer eine alte, verwitwete,
süßliche, sehr brave, aber ohne Orthographie dahinlebende, körperlich
ungeheuere, von widerlichen Schmerzen, die niemand glaubt, geplagte Tante,
unter der man die Ansprache "Meine Lieben", die ihr gehört,
förmlich erst wegziehn müßte. Wissen Sie keinen Rat?
Herzlichste Grüße Ihres FranzK.
[Am Rande] Die Karte von der Schloßbrücke habe ich nicht bekommen.
Was stand auf ihr?
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at