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An Grete Bloch
Liebes Fräulein Grete, Ihren Brief bekam ich heute früh ins Bett
(alte inhaltslos gewordene Gewohnheit des Lange-im-Bett-bleibens noch aus
den Zeiten der wunderbaren Schlafsucht her!) lag dann noch wohl eine ganze
sehr angenehm verlaufene Stunde und beantwortete dabei Ihren Brief im Selbstgespräch.
So ausgiebig und richtig wie jene Antwort war, insbesondere F. betreffend,
wird die jetzige in der Nachmittagshitze (dann gehe ich aber schwimmen)
gewiß nicht werden.
Es gibt Überzeugungen, die so tief und richtig in einem sitzen, dass
man sich um ihre einzelweise Begründung gar nicht kümmern muß.
Man ist übrigens so sehr von ihnen ausgefüllt, dass für
Argumente kein Platz ist; man wüßte nicht, wo man sie unterbringen
sollte.
Nur wenn sie einem abgefordert werden, liefert man sie, aber sie sind mit
der unsagbaren Begründung an Elementarkraft natürlich nicht zu
vergleichen. Ich habe nicht viele derartige Überzeugungen (von außen
gesehen kann man sie natürlich unbesorgt Vorurteile nennen); über
zwei davon, über die Überzeugung von der Fluchwürdigkeit
der heutigen Medicin und der Überzeugung von der Häßlichkeit
einer Pelzstola (Sie nennen es Shawl?) verhandeln wir. Nur ist zwischen
den beiden Überzeugungen in Bezug auf Sie ein Unterschied. Baldriantee,
auch wenn Sie ihn trinken, gefällt mir nicht, gegen eine Pelzstola
dagegen, wenn Sie sie tragen, habe ich nicht das geringste einzuwenden.
Ich rede ganz im Ernst. (Ich fürchte mich nicht einmal vor dem als
so schrecklich angekündigten Kleidungsstück, nur neugierig bin
ich. Was kann es denn nur sein? Eine 5m Schleppe? Ein Dirndl-Kostüm?)
Sie haben sehr recht, auch Schlaflosigkeit ist etwas Menschenunwürdiges.
Wenn ich jemandem den gegenwärtigen Zustand meines Kopfes wie ihn
die heutige Nacht hinterlassen hat zeigen könnte, würde er die
Hände zusammenschlagen. Aber ich weiß ja die Hauptgründe
meiner Schlaflosigkeit, zum großen Teil eine 30jährige ziemlich
unrichtige Lebensweise. Es ließe sich noch sehr vieles und Wirkungsvolles
dagegen heute tun, z. B. regelmäßig und bald schlafen zu gehn,
aber ich tue es nicht. Das ist meine Schuld und die muß ich tragen.
Wir hassen beide falsches Pelzwerk, warum hassen wir nicht beide falschen
Schlaf? Ein zweiter Grundsatz der Naturheilkunde ist: Vermeide es in einen
Organismus mit einem Mittel einzugreifen, dessen vollständige, in
einem Organismus arbeitende, also notwendig nach allen Seiten verlaufende
Wirkung Du nicht kennst. Aus diesem Grunde kann es keine berechtigte Specialheilkunde
geben und jeder mit internen Leiden sich beschäftigende Specialist
ist ein niederschießenswerter Herr. Organismen lassen sich nicht
teilen, ohne irgendwie zerstört zu werden. Habe ich ein zu großes
Stück Kohle und kann es nicht durch die Ofentüre bringen, dann
ist es sehr praktisch, wenn ich es zerschlage. Wenn ich aber durch eine
für mich zu enge Tür gehen soll, dann wird es gar nicht praktisch
sein, wenn ich mich zu diesem Zweck halbiere. Bestünde ich z. B. nur
aus Schlaf, der sich mit der Zeit in Nichtschlaf verwandelt hat, dann würde
ich natürlich nicht zögern, dem Nichtschlaf Baldriantee zu geben,
ja ich würde ihn sogar mit Brom oder Veronal vollschütten, um
aus dem Nichtschlaf einen Schlaf zu erhalten. Da ich aber nicht nur Schlaf
bin, sondern Mensch, wäre das ein falscher Vorgang.
[Wahrscheinlich die Fortsetzung dieses Briefes]
Aber darüber werde ich heute nicht alles sagen können, was ich
zu sagen habe.
In meinem Verhältnis zu F. gibt es meines Wissens nicht das Geringste,
was Sie, liebes Fräulein Grete, nicht ebenso wie F. wissen könnten
und meinem Gefühl nach auch wissen sollten. Die Frage, wie Sie sie
formulieren: "Vor Ihrer Verlobung wußte ich stets..., dann
kam ein Satz ( ?) für ein mögliches Ja" verstehe ich nicht
genau. Meinen Sie aber damit die Frage, was sich im Vergleich zu der Zeit
vor der Verlobung in dem Verhältnis zwischen F. und mir geändert
hat, dann muß ich allerdings eine etwas merkwürdige Antwort
geben: Es hat sich nichts geändert. Äußerlich natürlich
manches, innerlich nichts, wenigstens nichts wovon ich wußte oder
was mir zur Deutung anvertraut worden wäre. Sie fragen, was F. schreibt.
Sie schreibt ziemlich regelmäßig. Nur hat sie sehr viel im Bureau
zu tun und die Briefe beschränken sich auf Besprechung der Wohnungsangelegenheit
u. dgl. An wirklich Erfreulichem habe ich nur zweierlei erfahren, dass
sie endlich der Ärztin gekündigt hat und statt dessen schwimmen
lernt. Vom Bruder sind ganz gute Nachrichten gekommen, er hat eine Stellung,
die ihn scheinbar ernährt. F. muß, soweit ich gesehen habe,
unendliches für ihn getan haben. - Viel mehr habe ich nicht gehört.
Dagegen habe ich zu Ihrem Brief noch eine Unmenge zu sagen, verschiebe
es aber, denn es ist schon spät, auch will die Feder nicht in Zug
kommen. Nur noch wegen der Adresse, weil Sie so angelegentlich nach ihr
fragen. [Dahinter, zwischen den Zeilen] Warum fragen Sie so?. Ich trug das
Manuscript in unser Geschäft, um es einpacken zu lassen. Die Adresse
wollte ich selbst schreiben. Aber meine jüngste Schwester Ottla (sie
arbeitet fast den ganzen Tag im Geschäft) machte, weil sie kindisch
ist (sie ist 20 Jahre, aber ein liebes und gutes Kind) Anspruch darauf,
selbst die Adresse zu schreiben. Sie schrieb sie also nach meinem Diktat,
übrigens unter fortwährendem Schimpfen meinerseits, da ich die
Schrift zu klein und unleserlich fand. Besonders das W von Wien ärgerte
mich. Nun ist das Paket aber doch angekommen.
Herzlichste Grüße Ihres Franz K.
Was werde ich morgen zu hören bekommen? Und warum soll Berlin Sie
schweigsam machen?
Die Adresse von Dr. Weiß, für den Fall, dass Sie ihm doch
schreiben wollten, ist nicht mehr die, welche auf dem Manuscript steht,
sondern Charlottenburg, Grolmannstraße 61.
__________
Denken Sie, nach Budapest habe ich noch nicht geschrieben. Ich kann mich
nicht dazu entschließen. Ich bin so schreibfaul, gar fremden Menschen
gegenüber. Und es ist gewiß sehr unrecht von mir. Merkwürdig
ist, dass sowohl F's als Ihr Versuch, mir die Schwester näherzubringen,
mich ein wenig abhält zu schreiben. Ein wenig nur, denn meine Abneigung
gegen dieses Schreiben sucht überall Gründe. F. schickte mir
etwa vor einem Jahr auf meine Bitte einen Brief der Schwester;
er enthielt auf 8 Seiten nur Haushaltungsrechnungen und solche allerkleinlichster
Art. Er war fast komisch. Und die Stelle, die Sie aus ihrem Brief letzthin
zitierten, war ziemlich leer. Und trotzdem habe ich diese Schwester doch
irgendwie gern, kann ihr aber vorläufig nicht schreiben.
Brief der Schwester: Vgl. Brief an Felice vom 23.
zum 24. Februar 1913, S. 312.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at