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An Felice Bauer

22. V. 14
 


Ich binde mich insoferne, als ich diesen Brief morgen an Dich absenden will, gleichgültig dagegen, was in dem Brief steht, den ich morgen von Dir bekomme. Bekomme ich keinen Brief, dann schicke ich allerdings auch diesen nicht.

Das, was ich sagen will, ist vielleicht veranlaßt, aber durchaus nicht verursacht, weder durch Dein Schweigen über die Reise meiner Schwester, noch durch Dein sonstiges augenblickliches Schweigen, noch endlich durch manches in Deinen letzten Briefen. Insbesondere die Reise meiner Schwester ist eine Geringfügigkeit, die sich von Deiner Seite aus durch ein einfaches aber sofortiges Nein vorzüglich hätte erledigen lassen. Vor allem ist aber das, was ich sagen will, insoferne von alledem unabhängig, weil es über das alles hinweg für uns allgemeine Geltung hat.

Ich bin, wenn ich hier allein an meinem Schreibtisch sitze, natürlich unabhängiger von Dir, als wenn ich bei Dir bin. Was ich hier sage, ist nicht etwa freier, nicht etwa wahrheitsgemäßer gesagt, aber es hat zumindest die gleiche Geltung wie das, was ich in jenem abhängigen Zustand sage. Wahr ist beides, wahr, soweit es in meinen Kräften steht. Wenn Dir daran liegt-und es muß Dir daran liegen-, über die Dich betreffenden Gedankengänge meiner selbständigen Verfassung im klaren zu sein, dann wirst Du Dir, soweit ich mich erinnere, diese Klarheit am besten aus dem Brief verschaffen, den ich Dir unmittelbar nach meiner vorletzten Berliner Reise geschrieben habe [1]. Vielleicht hast Du ihn und findest ihn. Ich will nicht wiederholen, was dort stand, und kann es auch nicht. Jedenfalls bildet das dort Gesagte die letzte, von keiner Seite widerrufene Grundlage unseres Verhältnisses.

Ich weiß, sie ist nicht ganz fest, zumindest von Dir nicht ausdrücklich anerkannt, das bildet eben meine Sorge. Wir mögen uns jetzt fest bei den Händen halten, vielleicht, aber der Boden unter uns ist nicht fest und verschiebt sich ununterbrochen und gesetzlos. Ob die Festigkeit des Bei-den-Händen-Haltens dies auszugleichen imstande ist, das weiß ich zeitweilig nicht. An mir soll es jedenfalls nicht fehlen.




dem Brief: Dieser Brief, wahrscheinlich bald nach dem 1. März 1914 geschrieben, ist nicht erhalten.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at