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An Grete Bloch

18. V. 14
 


Liebes Fräulein Grete, was das Zahnweh anlangt, das ja glücklicher Weise schon vorüber ist und über das man also ruhig reden und ruhig angehört werden kann, so entwinden Sie mir mein Recht nicht, wenn es natürlich auch richtig bleibt, dass jeder Gesunde jedem Kranken gegenüber idiotisch erscheint und sich auch wirklich idiotisch verhält. Das gilt besonders von Ärzten, die sich berufsmäßig so verhalten müssen. Aber dass Zugluft allein keine Zahnschmerzen in gesunden Zähnen verursacht, daran ist für mich kein Zweifel. Gesunde Zähne fühlen sich überhaupt erst in Zugluft wohl. Und wenn auch Vernachlässigung der Zähne nicht gerade durch schlechte Pflege erfolgt ist, so ist sie, nicht anders wie bei mir, durch Fleischessen erfolgt. Man sitzt bei Tisch, lacht und spricht (ich habe für mich wenigstens die Rechtfertigung, dass ich nicht lache und spreche), und inzwischen entstehen aus winzigen Fleischfasern zwischen den Zähnen Fäulnis- und Gährungskeime in nicht kleinern Mengen als aus einer toten Ratte, die zwischen zwei Steine geklemmt ist.

Und nur Fleisch ist derart faserig, dass es nur mit großer Mühe und selbst dann nicht gleich und vollständig entfernt werden kann, es müßte denn sein, dass man Raubtierzähne hat, zugespitzt, auseinandergestellt, zum Zerreißen der Fasern eingerichtet.

Aber schließlich hilft das alles nichts. Sie waren noch nicht in der Opolzergasse (so heißt sie; glaube ich) und gehn auch jetzt in der Zeit der jungen Gemüse nicht hin. Wenn es sich um eine fremde Sache handelt, z.B. um das Grillparzerzimmer, so sind Sie lieb und tun es. Handelt) es sich aber um Sie, sind Sie nicht lieb und tun es nicht.

Dass Sie sich den Eingang in die Lichtensteingallerie erzwungen haben, hat mir sehr gut gefallen. Denn es bedeutet das Vorhandensein eines guten und nach Ihrem ganzen Wesen (ich bin jetzt ganz objektiv, urteile von mir aus gar nicht) gewiß gut begründeten Selbstvertrauens, denn mit nicht gut begründetem würden Sie gewiß nichts unternehmen. Sie belauern sich ja übergenug. Aber in diesem Fall sagten Sie sich, dass Ihnen durch das Geschlossensein der Gallerie Unrecht geschehe, dass Sie, und sogar Sie allein, das Recht haben, sie anzusehn und so haben Sie sich dieses Recht erzwungen. Ich weiß nicht, ob ich für mich, für andere wohl, dessen fähig gewesen wäre. Nicht dass ich vielleicht unfähig gewesen wäre, den Mann zu überreden, mich einzulassen, aber der ganze Gedankengang, der zu diesem Manne führte, hätte, wenigstens nicht lückenlos, in mir nicht entstehen können. Meine Gesamtlage muß demnach doch schlechter sein, als die Ihre.

Den Roman ich Ihnen heute geschickt. In die Wohnung. Vor Dr. Weiß müssen Sie sich nicht fürchten; wenn hier etwas zu fürchten wäre, hätte ich es schon selbst abgeschöpft., Aber ich habe nichts gefunden. Er ist ein sehr lieber, sehr vertrauenswürdiger, in gewissen Richttragen, allerdings nur in gewissen, sehr einsichtiger und in glücklichen Momenten prachtvoll lebhafter Mensch. Übrigens F.'s Feind. Ich zögere nicht, Ihnen zuliebe einen Fischerkatalog zu zerreißen (es ist übertrieben, das Bild löst sich leicht heraus) und Weiß' Bild Ihnen zu schicken. Diese starren Augen hat er nicht, an Zwicker gewöhnte Augen reißen sich vor Schrecken so auf, wenn der Zwicker abgenommen wird.

Herzlichste Grüße Ihres Franz K.




Opolzergasse: Das vegetarische Restaurant >Thalisia< in Wien.


Fischerkatalog: Das 27.Jahr, S.Fischer Verlag, Berlin 1913, S. 289.


Roman: Das Manuskript des Romans "Der Kampf" von Ernst Weiß.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at