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An Felice Bauer

29. XII. 13 nachmittag 1 - 2. Januar 1914]
 


Du hast mir Felice, innerhalb der letzten zehn Tage viermal versprochen, dass Du mir noch an dem Tage des jedesmaligen Versprechens schreiben wirst. Einmal hast Du es mir schriftlich durch Dr. Weiß versprochen, einmal telephonisch, zweimal telegraphisch, nach dem letzten Telegramm war der Brief für mich schon geschrieben und sollte bestimmt am Tage des Telegrammes, also am letzten Sonntag abgehn. Keinen dieser Briefe habe ich bekommen, Du hast also viermal die Unwahrheit gesagt.

Äußerlich sieht das vollständig sinnlos aus. Du weißt dass es rings um mich herum nichts gibt, was an Wichtigkeit mit dem versprochenen Brief auch nur im geringsten zu vergleichen wäre. Du weißt also auch, dass Du mir durch das Nichtschreiben, besonders wenn Du es von Zeit zu Zeit immer wieder so bestimmt versprichst, Qualen von Minute zu Minute bereitest. Du weißt auch, dass ich, wenigstens jetzt, ganz schuldlos bin und dass ich (ich erwähne dies hier nur der Vollständigkeit halber, es ist ja hier ganz belanglos und vielleicht lächerlich) auf das geringste Wort von Dir hin sofort an Deine Eltern schreiben würde. Du leugnest es sogar gewissermaßen, dass Du auf mich böse bist, und in allen Versprechungen hast Du mir außer dem Versprechen selbst, immer noch eine kleine Hoffnung gemacht. Ich wiederhole, äußerlich und im ersten Augenblick sieht das unmenschlich aus.

Ich aber, der ich Dich aus eigenem Willen unter keinen Umständen lasse, erkläre es mir doch. Ich halte Dich für ein durchaus wahrhaftiges Mädchen und halte Dich solcher Unwahrheiten nur bei unwiderstehlichem Zwange für fähig. Du möchtest mich gern trösten, darum versprichst Du immer, mir zu schreiben. Du versuchst es dann auch wirklich, aber Du kannst es dann einfach nicht, aus äußern oder innern Gründen. Da Du auch ein selbständiges Mädchen bist, sind es wahrscheinlich innere Gründe; desto schlimmer für mich.

So antworte ich mir an Deiner Stelle. Und ich bitte Dich jetzt, mir nur zu schreiben, ob ich mit dieser Selbstbeantwortung recht habe oder nicht. Du sollst mir das nicht telegraphieren, sondern schreiben, ich will Deine Schrift sehn, um es wirklich glauben und richtig auffassen zu können. Dagegen bitte ich Dich, es mir express in die Wohnung zu schicken, damit ich den Brief am Neujahrsmorgen habe, ich kann ihn nämlich nicht rasch genug bekommen, glaube mir. Wenn Du über das "Ja" und "Nein" hinaus noch einiges zur Erklärung schreiben willst, so wird das durchaus nur Gnade sein; wenn aber eine solche Erklärung Dir nur die geringsten Schwierigkeiten bereiten oder den Brief auch nur um ein Weilchen verzögern sollte, dann bitte ich Dich sogar, nichts zu erklären. Du siehst, ich bitte nur um einen kleinen, ganz mühelosen, ganz unverbindlichen Brief. Nenne mich darin nicht lieb, wenn ich es Dir nicht bin, schicke mir keine herzlichen Grüße, wenn Du es nicht so meinst. Nur einen ganz kleinen Brief. Es ist keine übermäßige Bitte.

Dagegen verspreche ich Dir, wenn ich einen solchen Brief bekomme, still zu sein Dich in keiner Weise zu stören und bloß, wenn es auch hoffnungslos sein sollte, auf Dich zu warten.

Franz


29.XII.13 abend


Ich hatte den beiliegenden Brief fertig geschrieben, legte mich ein wenig ins Bett (ich hatte in der Nacht fast gar nicht geschlafen, das ist nicht etwa ein Vorwurf, ich schlafe ganz allgemein elend) und wollte dann ins Bureau, ich habe dort viel zu tun. Abend wollte ich dann zu Dr. Weiß gehn, der jetzt in Prag ist und mit mir in ein Vorstadttheater gehst wollte. In das Theater werden wir aber nicht mehr kommen, denn es ist schon 7 Uhr und ich sitze hier und schreibe. Gegen 5 Uhr kam Dein Brief, ich war noch nicht eingeschlafen. Wäre ich nicht im Bett gewesen, ich hätte ihn gleich beantwortet, jetzt bin ich froh, dass ich es nicht getan habe und statt dessen etwa 2 Stunden im Bett gelegen bin und nachgedacht habe, nicht etwa über mich, denn mit mir bin ich fertig, aber über Dich.

Ich sehe aus Deinem Brief, dass ich Dir mit meiner Bitte um einen Brief viel Leid verursacht habe, nicht so viel wie das Nichtschreiben mir, aber doch viel. Vielleicht konntest Du mir deshalb nicht schreiben, weil Du Dich bemüht hast, mir einen Brief zu schreiben, in dem der folgende Absatz nicht vorkam: "Wir würden beide durch eine Heirat viel aufzugeben haben, wir wollen es nicht gegenseitig abwägen, wo ein Mehrgewicht entstehen würde. Es ist für uns beide recht viel." Es ist Dir aber nicht gelungen, einen solchen Brief zu schreiben. Der Absatz ist allerdings schrecklich und er wäre, wenn er so rechnerisch gemeint ist, wie er dasteht, fast unerträglich. Aber trotzdem meine ich, es ist gut, dass er geschrieben wurde, es ist sogar für unsere Einigung gut, trotzdem von dem Absatz zur Einigung kein Weg zu führen scheint, denn wenn man rechnet, kann man nicht steigen. Aber das ist nur die erste Meinung, man muß sogar rechnen, Du hast ganz recht, es müßte denn sein, dass es nicht etwa unrecht, sondern sinnlos und unmöglich ist, zu rechnen. Und das ist meine letzte Meinung.

Du hast mich mißverstanden, wenn Du glaubtest, mich halte vom Heiraten der Gedanke ab, dass ich in Dir weniger gewinne, als ich durch Beendigung des Alleinlebens aufgeben muß. Ich weiß, Du hast es auch mündlich so formuliert und ich habe dem auch widersprochen, aber nicht genug gründlich, wie ich sehe. Es hat sich für mich nicht darum gehandelt, etwas aufzugeben, ich bliebe auch nach der Heirat derjenige, der ich bin, und das ist ja eben das Schlimme, das Dich, wenn Du wolltest, erwarten würde. Was mich gehindert hat, war ein erdachtes Gefühl, im vollständigen Alleinsein liege eine höhere Verpflichtung für mich, nicht etwa ein Gewinn, nicht etwa eine Lust (wenigstens nicht in dem Sinne Deiner Meinung), sondern Pflicht und Leid. Ich glaube gar nicht mehr daran, es war Konstruktion, nichts sonst (vielleicht hilft mir die Erkenntnis auch weiter), und sie ist höchst einfach widerlegt dadurch, dass ich ohne Dich nicht leben kann. Gerade Dich, so wie Du bist, mit diesem schrecklichen Absatz in dem Brief, so will ich Dich. Und auch wieder nicht zu meinem Trost oder zu meiner Lust, sondern damit Du als ein selbständiger Mensch hier mit mir lebst.

Ich war noch nicht so weit, als ich Deinen Eltern geschrieben hatte. Eine Unmenge im Laufe des Jahres aufgehäufter Konstruktionen gingen mir fortwährend, geradezu ohrenbetäubend, durch den Kopf. Von Venedig aus machte ich ein Ende, ich konnte den Lärm in meinem Kopf wirklich nicht mehr ertragen.

Ich glaube, ich muß hier ganz wahrhaftig sein und Dir etwas sagen, wovon im Grunde niemand bisher durch mich erfahren hat. Ich habe mich im Sanatorium in ein Mädchen verliebt, ein Kind, etwa 18 Jahre alt, eine Schweizerin, die aber in Italien bei Genua lebt, im Blut mir also möglichst fremd, ganz unfertig, aber merkwürdig, trotz Krankhaftigkeit sehr wertvoll und geradezu tief. Es hätte ein viel geringfügigeres Mädchen sein können, um sich meiner in meinem damaligen leeren, trostlosen Zustand zu bemächtigen, meinen Zettel aus Desenzano hast Du ja, er ist etwa 10 Tage vorher geschrieben. Es war mir wie ihr klar, dass wir gar nicht zueinander gehörten und dass mit dem Ablauf der 10 Tage, die uns zur Verfügung standen, alles zuende sein müßte und dass nicht einmal Briefe, keine Zeile geschrieben werden durfte. Immerhin bedeuteten wir einander viel, ich mußte große Veranstaltungen treffen, dass sie beim Abschied nicht vor der ganzen Gesellschaft zu schluchzen anfing, und mir war nicht viel besser. Mit meiner Abreise war alles zuende.

Selbst das, so widersinnig das äußerlich ist, hat dazu beigetragen, dass ich mir über Dich klarer geworden bin. Die Italienerin wußte auch von Dir, wußte auch, dass ich im Grunde nach nichts anderem strebte, als Dich zu heiraten. Dann kam ich nach Prag, war ohne jede Verbindung mit Dir, verlor immer mehr den Mut, aber dachte daran, Weihnachten vielleicht nach Berlin zu kommen und alles zur Entscheidung zu bringen.


1.1.14


Zuerst ein glückliches neues Jahr Dir, Felice, und wenn Du es wollen wirst, uns beiden. Es ist doch nicht so leicht, auf Deinen Brief zu antworten, wie ich anfangs dachte. Der eine Absatz sticht so hervor und das Licht wechselt auf ihm, gänzlich ihn aufzulösen scheint fast unmöglich. Darum wollte ich nur schreiben, wenn ich Zeit und Ruhe hatte, die hatte ich aber gestern nicht und auch heute eigentlich habe ich sie nicht, denn ich bin müde und in einer ¼ Stunde holen mich Felix und Oskar ab. Trotzdem schreibe ich ein wenig, um mit Dir in Berührung zu kommen, denn das tut mir wohl, es macht mich im Augenblick fast glücklich, wenn Du auch vielleicht gerade jetzt, ¼4 Uhr nachmittag, Gott weiß wo bist und Gott weiß an was denkst, das mit mir in keiner Beziehung steht und niemals in Beziehung stehen wird. Trotzdem. Daß meine Antwort so spät kommt, macht mir keine Sorgen, denn zwischen Deinem Warten auf meine Briefe und meinem Warten auf Deine Briefe gibt es keinen Vergleich, vielleicht mache ich Dir mit der Verzögerung noch einen Gefallen.

Es ist (Du weißt es ja und ich müßte es also eigentlich gar nicht erst sagen) das erstemal, dass Du von Verlusten sprichst, welche (das muß hervorgehoben werden) nicht etwa nur der Abschied von Berlin, sondern überdies die Heirat mit mir für Dich mit sich bringen würden. Du sprichst jetzt überdies nicht nur von der Möglichkeit solcher Verluste, sondern von ihrer Zweifellosigkeit. Endlich ergibt sich in Deiner Darstellung auch noch ein "Mehrgewicht", das nach der Art der Erwähnung wahrscheinlich zu Deinen Ungunsten gedeutet werden müßte.(*)

Es ist das schließlich nichts anderes als das, wovon ich ein Jahr lang Dich zu überzeugen versucht habe. Wäre es der Erfolg dessen, so könnte ich zufrieden sein. Aber in dem Fall hätte er doch allmählicher kommen müssen, nicht so plötzlich. Aber vielleicht ist er in der Zeit des Nichtschreibens gekommen, also doch allmählich und ich habe bloß von der Entwicklung nichts bemerkt. Aber dem widerspricht doch das, was Du an dem letzten Berliner Sonntag [9.November 1913] sagtest, und dem widerspricht auch Deine ganze bisherige Auffassung, nach welcher Du - ohne Rücksicht darauf, ob ich und das Leben mit mir Dir etwas Gutes bedeuten könnte - in Berlin nichts zurückließest, was für Dich von tiefer, eingreifender unentbehrlicher Bedeutung war. Aber vielleicht hast Du Dich auch darüber bisher getäuscht und bist Dir inzwischen über Deinen Besitzstand klarer geworden. Vielleicht habe ich nicht durch Worte, aber durch mein Dasein Dir dazu verholfen. Das ist ja möglich. Ich hatte manchmal selbst den Eindruck, dass Du in Berlin für Dich Unentbehrliches besitzt. Kleinigkeiten in Deinem Verhalten mir gegenüber könnten, wenn man genauer zusieht, als Bestätigung dessen gelten. Und endlich habe ich noch immer im Ohr, was Du


1.1. 14 Mitternacht


der Frau von Max in Berlin erzählt hast, dass das Bureau und das Leben dort für Dich sehr wichtig sei und dass Dein Direktor Dich gewarnt hat, ohne ganz genaue Überlegung Berlin zu verlassen. (dass Du dieses einer fremden Frau, die Du ein paar Stunden erst kanntest, wiedererzähltest, war im Grunde für mich fast so schlimm, als wenn Du dem Direktor ausdrücklich zugestimmt hättest.)

Außerdem aber, Felice, muß ich ja zugeben, dass Du recht hast. Bei einfach kaltem Überblick verlierst Du gewiß. Du verlierst Berlin, Dein Bureau die Arbeit, die Dich freut, ein fast gänzlich sorgenloses Leben, die besondere Art von Selbständigkeit, den geselligen Verkehr mit Menschen, die Dir entsprechen, das Leben mit Deiner Familie - und das sind nur die Verluste, von denen ich weiß. Dagegen kämest Du nach Prag in eine Provinzstadt mit einer Dir unbekannten Sprache, in den notwendigerweise kleinbürgerlichen Haushalt eines Beamten, der zum Überfluß nicht einmal ein vollwertiger Beamte[r] ist, Sorgen würden nicht fehlen, selbständig bliebest Du zwar, aber doch nicht unbehindert und statt des geselligen Verkehrs und statt Deiner Familie hättest Du einen Mann, der meistens (wenigstens jetzt meistens) trübsinnig und schweigsam ist und dessen persönliches seltenes Glück in einer Arbeit besteht, welche Dir als Arbeit notwendiger Weise fremd bliebe. Das sind allerdings Dinge, über welche vielleicht nur (ich weiß nicht, ob ich hier davon reden darf) Liebe hinweghelfen könnte.

Ein Fehler ist, wie gesagt, in Deiner Lehre vom Mehrgewicht ganz bestimmt. Auf meiner Seite war niemals ein "Verlust" in Frage, nur ein "Hindernis" und dieses Hindernis besteht nicht mehr. Ich wage es sogar zu sagen, dass ich Dich so lieb habe, dass ich Dich selbst dann heiraten wollte, wenn Du ausdrücklich sagtest, dass Du nur eine ganz laue Neigung und auch die nur ungewiß, für mich übrig hast. Es wäre schlecht und gaunermäßig, Dein Mitleid so auszunutzen, aber ich wußte mir nicht anders zu helfen. Dagegen gebe ich zu, dass es unmöglich ist zu heiraten, wenn und solange Du die Verluste so überklar erkennst und voraussiehst, wie man aus Deinem Briefe schließen könnte. Das Eintreten in eine Ehe mit dem deutlichen Bewußtsein des Verlustes - das ist unmöglich, das gebe ich zu, das würde ich auch nicht zulassen, selbst wenn Du es wolltest. Schon deshalb nicht, weil in der Ehe, die ich einzig und allein will, Frau und Mann in ihrem menschlichen Kern einander ebenbürtig sein müssen, um innerhalb der Einheit selbständig bestehen zu können das aber wäre dann unmöglich.


2.1.14


Ist es Dir aber, Felice, wirklich ernst mit Deiner Meinung, fürchtest Du wirklich den Verlust? Gehst Du wirklich so vorsichtig mit Dir um? Nein, das tust Du ganz gewiß nicht. Hier gibt es vielmehr, um klar zu sein, nur zwei Möglichkeiten: entweder willst Du von mir nichts wissen und willst mich auf diese Weise von Dir wegschieben oder Du bist bloß in dem Vertrauen zu mir unsicher geworden und führst nur deshalb die Abwägung aus. Im ersten Fall kann ich nichts hindern und nichts sagen, dann ist es also zuende, ich habe Dich verloren, ich muß zusehn, wie ich weiterhin werde bestehen können und weiß es genau, dass ich es niemals ganz verwinden werde. Im zweiten Fall dagegen ist nichts verloren, dann muß es mit uns gut werden, denn ich weiß, dass ich jede Probe Deines Vertrauens im ganzen werde bestehen können, wie schwach ich auch im einzelnen Augenblick sein mag.

So liegt es also an Dir, Felice, zu sagen, wie es sich hier verhält. Ist es der erste Fall, dann müssen wir doch Abschied nehmen, ist es der zweite Fall, dann prüfe mich, an die Möglichkeit des 3ten Falles, dass Du wirklich ohne tiefere Beziehung nur die Verluste nachrechnest, kann ich nicht glauben.

Wir hatten allerdings uns dahin geeinigt, ans Heiraten nicht mehr zu denken und einander nur zu schreiben wie früher. Du hattest es vorgeschlagen und ich habe zugestimmt, da ich nichts Besseres wußte. Jetzt weiß ich es, tun wir das Bessere! Die Ehe ist die einzige Form, in der die Beziehung zwischen uns erhalten werden kann, die ich so sehr brauche. Auch ich halte es für gut, dass wir nicht in der gleichen Stadt leben, aber nur deshalb, weil, wenn wir doch heiraten sollten, dies später geschehen wäre als jetzt, da wir so getrennt sind. Es würden Zweifel erscheinen, Möglichkeiten der Verzögerung sich finden und traurige Zeiten würden so unnütz vergehn. Sie vergehn ja auch jetzt in Überfülle.

Aber auch Dir ist das Aufrechterhalten des Briefwechsels nicht ganz ernst. Was wäre das Ergebnis? Qualen des Wartens und Niederschreiben von Klagen. Das wäre alles. So würde es langsam zerfallen und der schließliche Schmerz wäre noch viel größer und unreiner. Das werden wir nicht tun, es ginge über unsere Kräfte und würde niemandem nützen. Sieh nur, wie schon die Zeit wirkt bei dieser bloß schriftlichen Verbindung, kaum zwei Monate sind vergangen seit Du mir zum letzten Male geschrieben hast, und schon schleichen sich an kleinen Stellen, ohne dass Du es weißt, fast Feindseligkeiten in Deinen Brief. Nein, Felice, so können wir nicht weiter leben.

Ich liebe Dich, Felice, mit allem, was an mir menschlich gut ist, mit allem, was an mir wert ist, dass ich mich unter den Lebendigen herumtreibe. Ist es wenig, so bin ich wenig. Ich liebe Dich ganz genau so wie Du bist, das was mir an Dir gut scheint, wie das, was mir nicht gut scheint, alles, alles. So ist es bei Dir nicht, selbst wenn alles andere vorausgesetzt wird. Du bist mit mir nicht zufrieden, Du hast an mir verschiedenes auszusetzen, willst mich anders haben, als ich bin. Ich soll "mehr in der Wirklichkeit" leben, soll mich "nach dem, was gegeben ist, richten" u.s.f. Merkst Du denn nicht, dass Du, wenn Du solches aus wirklichem Bedürfnis willst, nicht mehr mich willst, sondern an mir vorüber willst? Warum Menschen ändern wollen, Felice? Das ist nicht recht. Menschen muß man nehmen, wie sie sind oder lassen, wie sie sind. Ändern kann man sie nicht, höchstens in ihrem Wesen stören. Der Mensch besteht doch nicht aus Einzelheiten, so dass man jede für sich herausnehmen und durch etwas anderes ersetzen könnte. Vielmehr ist alles ein Ganzes, und ziehst Du an einem Ende, zuckt auch gegen Deinen Willen das andere. Trotzdem, Felice, - sogar das, dass Du an mir verschiedenes auszusetzen hast und ändern möchtest, sogar das liebe ich, nur will ich, dass Du es auch weißt.

Und jetzt entscheide, Felice! Dein letzter Brief ist noch keine Entscheidung, er enthält noch Fragezeichen. Du bist Dir immer klarer über Dich gewesen als ich über mich. Du darfst mir jetzt darin nicht nachstehn.

Und jetzt küsse ich noch die Hand, die den Brief fallen läßt.

Franz




Quelle Text: Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit. Fischer Taschenbuch Verlag, 1982. 23. - 30. Tausend.
Quelle Anmerkungen: Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit. Fischer Taschenbuch Verlag, 1982. 23. - 30. Tausend.

Du hast also viermal die Unwahrheit gesagt: Es fehlen vermutlich vier Briefe, die Kafka in der Zeit vom 27. November bis zum 29. Dezember an Felice geschrieben hat. Vgl. Kafkas Bemerkung im Brief an Grete Bloch vom 28. Januar 1914, S. 491: "Zum erstenmal seit meinem Berliner Besuch [8.-9. November 19131 schrieb ich F . ... am 27.XI. Antwort bekam ich keine ... Ich schrieb dann etwa 14 Tage später wieder einen Brief, wieder keine Antwort... ich dürfte wohl noch 2 Briefe geschrieben und 2 Telegramme geschickt haben."


eine Schweizerin: Die Begegnung mit der einige Male im Tagebuch (15., 20. und 22. Oktober 1913) genannten und einmal in einem Brief an Max Brod (28. September 1913) erwähnten Schweizerin in Riva. Tagebücher, S. 321ff und Briefe, S. 121. Ihren Namen bezeichnet Kafka stets nur mit den Initialen W. oder G.W. Aus der Tagebucheintragung vom 20. Oktober 1913 geht hervor, dass er der Schweizerin versprochen hatte, über das Zusammensein in Riva Stillschweigen zu bewahren.


(*) Vgl. Brief an Grete Bloch vom 7. Februar 1914, S. 496 und Brief an Felice vom 9. Februar 1914, S. 499.


Letzte Änderung: 31.1.2016werner.haas@univie.ac.at