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An Lise Weltsch
Liebes Fräulein,
nun bin ich wieder in Prag und habe Sie nicht hier und nicht dort gesehn.
Nicht hier, weil ich an dem Abend nicht frei war und überdies hoffte,
Sie in Berlin in Ihrem neuen Leben sehn zu können und in Berlin wieder,
von wo ich übrigens schon Dienstag nachmittag weggefahren bin, war
ich so hin und her gezogen, so bis auf den Grund der schwachen Kraft verbraucht,
dass ich nicht einmal telephonierte. Was hätten Sie auch für
eine Erscheinung gesehn, wenn ich Sie wirklich besucht hätte! Davon
nichts mehr.
Die Bemerkung "ich habe schon etwas gelernt u. s. w." in Ihrem
Brief scheint mir recht zu geben, als ich Sie zu der Übersiedlung
beglückwünschte. Man lernt vielleicht nicht viel in der Fremde,
aber dieses Wenige ist ungeheuer viel, solange man es nicht hat: Es geschieht
nirgends Übermenschliches, wenn man für seine Augen die richtige
Perspektive einhält, aber das was einem Prager Mädchen in dem
ersten Monat des Zusehns an einer Berlinerin übermenschlich scheint,
ist doch wert untersucht, erlebt und dann erst vielleicht verlacht zu werden.
Ich weiß nicht warum ich gerade von einem Prager Mädchen spreche,
ich könnte vielleicht noch passender von dem großen alten Menschen
reden, der diesen Brief schreibt, Sie herzlich grüßt und sich
für Sie freut.
Ihr Franz Kafka
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at