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Brief an Max Brod
[Prag, 6. 2. 1914]

Mein lieber Max!
Ich sitze zuhause mit Zahnschmerzen und Kopfschmerzen, jetzt bin ich eine ½ Stunde im finstern überheizten Zimmer an einer Tischecke gesessen, vorher bin ich eine halbe Stunde an den Ofen gelehnt gewesen, vorher bin ich eine ½ Stunde im Lehnstuhl gelegen, vorher bin ich eine ½ Stunde zwischen Lehnstuhl und Ofen hin- und hergewandert, jetzt endlich werde ich mich losreißen und weggehn. In Deinem Namen eigentlich, Max, denn wäre ich nicht entschlossen gewesen, Dir zu schreiben, ich hätte nicht das Gas anzünden können.
dass Du mir den Tycho widmen willst, ist seit langer Zeit die erste unmittelbar mich angehende Freude. Weißt Du, was eine solche Widmung bedeutet? dass ich (und sei es auch nur zum Schein, irgendein Seitenlicht dieses Scheins wärmt mich doch in Wirklichkeit) hinaufgezogen und dem "Tycho", der um so viel lebendiger ist als ich, beigefügt werde. Wie klein werde ich diese Geschichte umlaufen! Aber wie werde ich sie als mein scheinbares Eigentum lieb haben! Du tust mir unverdient Gutes, Max, wie immer.
Du hast also die Arbeit von Haas so leicht verstanden? Bis in jedes Fremdwort hinein: Und wenn er Deine allgemeine Meinung bestätigt, wie verhält es sich dann mit Fikher (so schreibt er sich gewiß nicht), der davon so erschüttert werden konnte?
Du hättest Musil meine Adresse gar nicht geben sollen. Was will er? Was kann er, und überhaupt jemand, von mir wollen? Und was kann er von mir haben?
So, jetzt kehre ich zu meinen Zahnschmerzen zurück. Ich habe sie schon 3 Tage in fortwährender Verstärkung. Erst heute (gestern war ich beim Arzt, er fand nichts) weiß ich mit Bestimmtheit, welcher Zahn es ist. Die Schuld hat natürlich der Arzt, der Schmerz ist in einem plombierten Zahn unter den Plomben; Gott weiß, was dort in der Absperrung kocht; es schwellen mir auch die Drüsen unten an.
Morgen zu Fanta komme ich kaum, ich gehe nicht gerne hin. Möchtest Du mir nicht schreiben, wann Du mir nächste Woche etwas vorlesen könntest. Offenbar denke ich, ich darf jetzt, was den Tycho anlangt, kommandieren.

Franz

6 II 14


Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


Den Tycho widmen: Die Widmung lautet: "Meinem Freunde Franz Kafka."
Arbeit von Haas: Der Aufsatz von Willy Haas (1891-1973 ), "Die Verkündigung und Paul Claudel", war in der katholisch orientierten Halbmonatsschrift Der Brenner (erstes Juliheft 1913) erschienen.
Fikher: Ludwig von Ficker, Herausgeber des Brenner.
Musil: Robert Musik der damals vorübergehend Redakteur der Neuen Rundschau war, wollte Kafka als Mitarbeiter gewinnen (siehe dessen Tagebucheintragung vom 23. Februar 1914: "Brief von Musil. Freut mich und macht mich traurig, denn ich habe nichts", T 362). Im Augustheft der Zeitschrift ist Musils Besprechung von Kafkas Betrachtung und Der Heizer erschienen (FB 34-36 und 55).
Zu Fanta: Frau Berta Fanta (1865-1918), die seit Jahren einen Kreis von Prager Intellektuellen um sich gesammelt hatte. An den regelmäßig veranstalteten Abenden des "Fanta-Kreises" nahmen zeitweilig - außer Brod, Felix Weltsch, Kafka und Frau Fantas Schwiegersohn Hugo Bergmann - u. a. die Physiker Albert Einstein und Philipp Frank, der Mathematiker Gerhard Kowalewski und der Philosoph Christian von Ehrenfels teil. Siehe hierzu WB 174-176.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at