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[Tagebuch, 4. Dezember 1913; Donnerstag]

4 XII 13

Von außen gesehn ist es schrecklich erwachsen aber jung zu sterben oder gar sich zu töten. In gänzlicher Verwirrung, die innerhalb einer weiteren Entwicklung Sinn hätte, abzugehn, hoffnungslos oder mit der einzigen Hoffnung, dass dieses Auftreten im Leben innerhalb der großen Rechnung als nicht geschehen betrachtet werden wird. In einer solchen Lage wäre ich jetzt. Sterben hieße nichts anderes als ein Nichts dem Nichts hingeben, aber das wäre dem Gefühl unmöglich, denn wie könnte man sich auch nur als Nichts mit Bewußtsein dem Nichts hingeben, und nicht nur einem leeren Nichts sondern einem brausenden Nichts, dessen Nichtigkeit nur in seiner Unfaßbarkeit besteht.

Ein Kreis von Männern, die Herren und Diener sind. Ausgearbeitete, in lebendigen Farben glänzende Gesichter. Der Herr setzt sich und der Diener bringt ihm die Speisen auf dem Brett. Zwischen beiden ist kein größerer Unterschied, kein anders zu wertender Unterschied, als z. B. zwischen einem Mann, der durch das Zusammenwirken unzähliger Umstände Engländer ist und in London lebt und einem andern, der Lappländer ist und zu gleicher Zeit allein im Sturm in seinem Boot das Meer befährt. Gewiß, der Diener kann - auch dies nur unter Umständen - Herr werden, aber diese Frage, wie sie auch beantwortet werden könnte, stört hier nicht, denn es handelt sich um die augenblickliche Bewertung der augenblicklichen Verhältnisse.

Die von jedem selbst dem zugänglichsten und anschmiegsamsten Menschen hie und da wenn auch nur gefühlsmäßig angezweifelte Einheitlichkeit der Menschheit zeigt sich andererseits auch jedem, oder scheint sich zu zeigen in der vollständigen immer wieder aufzufindenden Gemeinsamkeit gesammt- und einzelmenschlicher Entwicklung. Selbst in den verschlossensten Gefühlen des Einzelnen.

Die Furcht vor Narrheit. Narrheit in jeden geradeaus strebenden, alles andere vergessen machendem Gefühl sehn. Was ist dann die Nicht-Narrheit? Nicht-Narrheit ist vor der Schwelle, zur Seite des Einganges bettlerhaft stehn, verwesen und umstürzen. Aber P. und O. sind doch widerliche Narren. Es muß Narrheiten geben, die größer sind als ihre Träger. Dieses Sich-spannen der kleinen Narren in ihrer großen Narrheit ist vielleicht das Widerliche. Aber erschien den Pharisäern Christus nicht in gleichem Zustande?

Wunderbare, gänzlich widerspruchsvolle Vorstellung dass einer, der z. B. um 3 Uhr in der Nacht gestorben ist gleich darauf etwa in der Morgendämmerung in ein höheres Leben eingeht. Welche Unvereinbarkeit liegt zwischen dem sichtbar Menschlichen und allem andern! Wie folgt aus einem Geheimnis immer ein größeres! Im ersten Augenblick geht dem menschlichen Rechner der Atem aus. Eigentlich müßte man sich fürchten aus dem Haus zu treten

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at