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[Tagebuch, 20. Oktober 1913; Montag]

20. X 13. Die unausdenkliche Traurigkeit am Morgen. Abend Jakobsohn "Der Fall Jakobsohn" gelesen. Diese Kraft zu leben, sich zu entscheiden, den Fuß mit Lust auf den richtigen Ort zu setzen. Er sitzt in sich wie ein meisterhafter Ruderer in seinem Boot und in jedem Boot sitzen würde. Ich wollte ihm schreiben. Gieng statt dessen spazieren, verwischte alles aufgenommene Gefühl durch ein Gespräch mit Haas, den ich traf, Weiber erregten mich, nun las ich zuhause "die Verwandlung" und finde sie schlecht. Vielleicht bin ich wirklich verloren, die Traurigkeit von heute morgen wird wiederkommen, ich werde ihr nicht lange widerstehen können, sie nimmt mir jede Hoffnung. Ich habe nicht einmal Lust ein Tagebuch zu führen, vielleicht weil darin schon zuviel fehlt, vielleicht weil ich immerfort nur halbe und allem Anschein nach notwendig halbe Handlungsweise beschreiben müßte, vielleicht weil selbst das Schreiben zu meiner Traurigkeit beiträgt. Gerne wollte ich Märchen (warum hasse ich das Wort so?) schreiben, die der W. gefallen könnten und die sie einmal beim Essen unter dem Tisch hält, in den Pausen liest und fürchterlich errötet, als sie bemerkt, dass der Sanatoriumsarzt schon ein Weilchen hinter ihr steht und sie beobachtet. Manchmal, eigentlich immer ihre Erregung beim Erzählen (ich fürchte wie ich merke die förmlich physische Anstrengung beim Sicherinnern, den Schmerz, unter dem der Boden des gedankenleeren Raumes sich langsam öffnet oder auch nur erst ein wenig sich wölbt) Alles wehrt sich gegen das Aufgeschriebenwerden. Wüßte ich, dass darin ihr Gebot wirkt, nichts über sie zu sagen (ich habe es streng, fast ohne Mühe gehalten) dann wäre ich zufrieden, aber es ist nichts als Unfähigkeit. Was meine ich übrigens dazu, dass ich heute abend eine ganze Wegstrecke lang darüber nachdachte was ich durch die Bekanntschaft mit der W. an Freuden mit der Russin eingebüßt habe, die mich vielleicht, was durchaus nicht ausgeschlossen ist, nachts in ihr Zimmer eingelassen hätte, das schief gegenüber dem meinigen lag. Während mein abendlicher Verkehr mit der W. darin bestand, dass ich in einer Klopfsprache, zu deren endgiltiger Besprechung wir niemals kamen, an die Decke meines unter ihrem Zimmer liegenden Zimmers klopfte, ihre Antwort empfing, mich aus dem Fenster beugte, sie grüßte, einmal mich von ihr segnen ließ, einmal nach einem herabgelassenen Bande haschte, stundenlang auf der Fensterbrüstung saß, jeden ihrer Schritte oben hörte, jedes zufällige Klopfen als ein Verständigungszeichen irriger Weise auffaßte, ihren Husten hörte, ihr Singen vor dem Einschlafen.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at