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[Tagebuch, 15. Oktober 1913; Mittwoch]

15. X 13 Ich habe mich vielleicht wieder aufgefangen, bin wieder vielleicht im Geheimen einen kürzern Weg gelaufen und halte mich, der ich im Alleinsein schon verzweifle, wieder an. Aber die Kopfschmerzen, die Schlaflosigkeit! Nun es steht für den Kampf oder vielmehr, ich habe keine Wahl.

Der Aufenthalt in Riva hatte für mich eine große Wichtigkeit. Ich verstand zum ersten Mal ein christliches Mädchen und lebte fast ganz in seinem Wirkungskreis. Ich bin unfähig etwas für die Erinnerung Entscheidendes darüber aufzuschreiben. Nur um sich zu erhalten macht mir meine Schwäche lieber den dumpfen Kopf klar und leer, soweit sich die Verworrenheit an die Ränder drücken läßt. Mir ist aber dieser Zustand fast lieber, als das bloß dumpfe und ungewisse Andrängen, zu dessen überdies unsichern Befreiung ein Hammer nötig wäre, der mich vorher zerschlägt.

Mißlungener Versuch an E. Weiß zu schreiben. Und gestern im Bett hat mir der Brief im Kopf gekocht.

In der Ecke einer Elektrischen sitzen, den Mantel um mich geschlagen.

Der Prof. Grünwald auf der Reise von Riva. Seine an den Tod erinnernde deutschböhmische Nase, angeschwollene, gerötete, blasentreibende Backen eines auf blutleere Magerkeit angelegten Gesichtes, der blonde Vollbart ringsherum. Von der Freß- und Trinksucht besessen. Das Einschlucken der heißen Suppe, das Hineinbeißen und gleichzeitige Ablecken des nicht abgeschälten Salamistumpfes, das schluckweise ernste Trinken des schon warmen Bieres, das Ausbrechen des Schweißes um die Nase herum. Eine Widerlichkeit, die durch gierigstes Anschauen und Beriechen nicht auszukosten ist.

Das Haus war schon geschlossen. In zwei Fenstern des zweiten Stockwerkes war Licht und dann noch in einem Fenster des vierten Stockwerkes. Ein Wagen hielt vor dem Hause. An das beleuchtete Fenster im vierten Stockwerk trat ein junger Mann, öffnete es und sah auf die Gasse hinunter. Im Mondlicht

Es war schon spät abend. Der Student hatte gänzlich die Lust verloren, noch weiter zu arbeiten. Es war auch gar nicht nötig, er hatte in den letzten Wochen wirklich große Fortschritte gemacht, er konnte wohl ein wenig ausruhn und die Nachtarbeit einschränken. Er schloß seine Bucher und Hefte, ordnete alles auf seinem kleinen Tisch und wollte sich ausziehn, um schlafen zu gehn. Zufällig sah er aber zum Fenster hin und es kam ihm beim Anblick des klaren Vollmondes der Einfall, in der schönen Herbstnacht noch einen kleinen Spaziergang zu machen und sich möglicherweise irgendwo mit einem schwarzen Kaffee zu stärken. Er löschte die Lampe aus, nahm den Hut und öffnete die Tür zur Küche. Im allgem. war es ihm ganz gleichgültig, dass er immer durch die Küche gehen mußte, auch verbilligte diese Unbequemlichkeit sein Zimmer um ein Bedeutendes, aber hie und da wenn in der Küche besonderer Lärm war oder wenn er wie heute z. B. spät abend weggehn wollte, war es doch lästig.

Trostlos. Heute im Halbschlaf am Nachmittag: Schließlich muß mir doch das Leid den Kopf sprengen. Undzwar an den Schläfen. Was ich bei dieser Vorstellung sah, war eigentlich eine Schußwunde, nur waren um das Loch herum die Ränder mit scharfen Kanten aufrecht aufgestülpt, wie bei einer wild aufgerissenen Blechbüchse.

An Krapotkin nicht vergessen!

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at