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An Grete Bloch

10.XI. 13
 


Liebes Fräulein!

Gestern abend bin ich von Berlin zurückgekommen, ich schreibe Ihnen früher, als ich F. schreibe. Ich verdanke Ihnen zum großen Teil diese Reise, und Sie haben sie verschuldet, ich kann Ihnen nicht anders als durch Erzählen danken.

Vorher aber möchte ich etwas eingestehn, nicht weil mir das Geständnis Freude macht, sondern weil das Schreiben ohne gänzliche oder möglichste Ehrlichkeit keinen Sinn hätte.

Als ich Ihren Brief aus Aussig erhielt, freute ich mich darauf, mit Ihnen zusammenzukommen, wenn auch ein gleichzeitig überraschend kommender Brief von F. mich beirrte. Immerhin war also mein erster Brief nicht ganz wahr. Ich erwartete (ich wußte ja von Ihnen nichts, als dass Sie geschäftstüchtig waren) ein älteres Fräulein mit mütterlichem Sinn anzutreffen, das - ich weiß nicht genau warum - auch groß und stark sein würde. Einem solchen Mädchen, dachte ich, könnte man wirklich möglicherweise alles eingestehn, was schon allein ein Segen wäre und man könnte vielleicht einen guten Rat bekommen (dieser Glaube, ein erwachsener Mensch könne einen guten Rat bekommen, ist eine meiner größten Dummheiten) und wenn nicht Rat so vielleicht Trost und wenn nicht Trost so jedenfalls Neuigkeiten von F. Aber dann kamen Sie und waren ein zartes, junges, gewiß etwas merkwürdiges Mädchen. Ich hatte zu Hause 2 Stunden darauf verwendet, alles was ich über die Hauptsache zu sagen hatte, übersichtlich zu ordnen, aber als es zum Reden kam, brachte ich, abgesehen davon, dass ich überhaupt nicht reden kann, nur elende Bruchstücke hervor, die Sie zum Teil überhörten, zum Teil gerechterweise belanglos fanden. Trotzdem hatte ich schon während des Gespräches das Gefühl, zu viel gesagt zu haben, und dieses Gefühl verstärkte sich auf dem Nachhauseweg und zu Hause so sehr, dass es schon Wut und Verzweiflung über mich war. Ich bildete mir ein, F., der gegenüber ich schon eine so große Schuld habe, auch noch verraten zu haben. Sie konnten nicht ihre Freundin sein, sagte ich mir; mit meinem vorbereiteten Geständnis beschäftigt hatte ich Sie nicht genug geprüft. Wie konnten Sie denn F.'s Freundin, sein? Ich hatte in Briefen fast nichts von Ihnen gehört; Sie selbst hatten schließlich gesagt, dass Sie sie erst ein ¾ Jahr kennen, später stellte sich heraus, dass es ½. Jahr war; Sie suchten den Grund unseres Unglücks zuerst in ganz falscher Richtung; Sie erzählten ferner ausführlich von dem Zahnleiden F.'s und mir ist (was Sie allerdings nicht wissen konnten, aber darum kümmerte ich mich in jener Nacht nicht) Krankheit der Zähme eines der widerlichsten Gebrechen, von denen ich nur bei den liebsten Menschen und selbst dort nur zur Not absehn kann; Sie erzählten mir von der Auflösung der Verlobung von F.'s Bruder und machten mir dadurch die ganze Familie, vor der ich mich in jedem Sinne fürchte und die ich am liebsten vergessen möchte, aufs äußerste lebendig - kurz, ich war ein Narr und legte alles grundfalsch aus und entschloß mich, -diese Narrheit war wenigstens folgerichtig - den nächsten Abend nicht mehr zu kommen und es in einem Brief anzuzeigen, in dem - - es ist schon wieder spät und ich werde heute nicht fertig werden und den Brief am Morgen nicht wegschicken können und Sie werden mir vielleicht böse sein, dass ich Ihren lieben Brief, dessen klare Güte nur bei der Stelle von den Rosen von einer Unverständlichkeit unterbrochen wird, noch nicht beantwortet habe (bemitleiden? Was meinen Sie damit? In einer gewissen Weise ist es übrigens wahr, ich bemitleide alle Mädchen, es ist das einzige unbestreitbare sociale Gefühl, das ich habe. Woher dieses Mitleid kommt, habe ich mir noch nicht klargemacht. Vielleicht bemitleide ich sie wegen der Umwandlung zur Frau, der sie erliegen sollen. Dann wäre aber mein Mitleid (wenn es nichts anderes ist) ein sehr mädchenhaftes Gefühl.)

In dem Brief - ich setze mein Geständnis fort - wollte ich erklären, dass alles, was ich am Abend gesprochen hatte, unrichtig gewesen ist, infolge meiner Ungeschicklichkeit und meiner damit zusammenhängenden Unehrlichkeit nur ins Leere gesprochen war, Ihre ursprünglich richtige Ansicht nur verwirrt hatte rund, wenn es sich am nächsten Abend wiederholen sollte (und das würde jedenfalls geschehn), weiterhin verwirren müßte. Deshalb mußte ich es mir unbedingt versagen zu kommen.

Ich hatte schon die Überschrift des Briefes, vielleicht auch schon die ersten Zeilen geschrieben, ließ es dann aber doch und kam wieder. Was für Folgen es auch gehabt hat und haben wird, - dass ich Ihnen eine Nacht und einen Tag lang ein häßliches und vor allem sinnloses Unrecht getan habe, ist sicher.

Und jetzt werde ich von Berlin erzählen. Meine ernstlichen Entschlüsse sind immer nur soweit ernstlich, dass es mich maßlos quält, wenn ich sie nicht ausführe. Dagegen geschieht es sehr oft, dass ich sie nicht ausführe. Ich glaube auch nicht, dass ich Samstag gefahren wäre, wenn nicht noch ein Brief von F. gekommen wäre, in dem ich an das Versprechen erinnert wurde, das ich Ihnen gegeben hatte. Dann bin ich aber sehr gern gefahren.

Darm ist aber das geschehn, was immer geschieht, wenn ich nach Berlin komme und woran ich vor jeder Abreise absichtlich oder unabsichtlich vergesse. Ich muß vorausschicken, dass ich F. eigentlich in Gestalt von 4 miteinander fast unvereinbaren und mir fast gleich lieben Mädchen kenne. Die erste war die, die in Prag war, die zweite war die, welche mir Briefe schrieb (die war in sich mannigfaltig aber doch einheitlich), die dritte ist die, mit der ich in Berlin beisammen bin und die vierte ist die, die mit fremden Leuten verkehrt und von der ich in Briefen oder in ihren eigenen Erzählungen höre. Nun die dritte, die hat nicht viel Neigung zu mir. Nichts ist natürlicher, ich sehe nichts als natürlicher an. Bei jeder Rückreise aus Berlin habe ich es mir mit Schrecken gesagt, diesmal überdies noch mit dem Gefühl, wie gerecht es mir zukommt. Es ist F.'s guter Engel, der sie so führt, der sie so knapp und vielleicht nicht einmal knapp an mir vorüberführt.

Ich wollte mehr darüber schreiben, ich fürchte mich, ich gerate in eine schiefe Richtung, es ist Zeit, dass ich Ihnen kurz beschreibe, wie es war. Freitag hatte F. meinen Brief, in dem ich für Samstag ½11 abends meine Ankunft anzeigte. Eine Bestätigung bekam ich nicht. Ich hatte Angst, dass der Brief vielleicht nicht angekommen ist, wollte telegraphieren, hoffte aber doch schließlich, dass ich im Hotel abends wenigstens ein Grußwort finden werde. Durfte ich nicht sogar hoffen, sie auf der Bahn zu sehn? Denken Sie, ich mußte doch Sonntag 4.30 wieder wegfahren, und selbst wenn ich bis Mitternacht bleiben, die Nacht durchfahren und aus dem Zug ins Bureau laufen wollte, so waren es doch nur wenige jämmerliche Stunden Aufenthalt. Aber es war niemand auf der Bahn und im Hotel war nichts. Nun war also mein Brief gewiß verlorengegangen, das war sehr schlimm. Trotzdem wartete ich früh bis ½9, dann war es unmöglich, länger zu warten, und ich schickte einen Radler hin. Der kam um 9, brachte einen Brief, F. schrieb, sie werde mich in einer ¼ Stunde antelephonieren, gegen 10 telephonierte sie. Alle diese Beobachtungen wären, merken Sie, keines Wortes wert ohne das Folgende. Wir gingen im Tiergarten spazieren. Ich erzähle nur das, was zu meinem Beweis gehört. F. mußte zu einem Begräbnis, das um 12 Uhr stattfand, wir rasten hin und kamen rechtzeitig an, das Letzte, was ich von F. aus dem Automobilfenster sah, war, wie sie zwischen zwei bekannten Herren durch das Gittertor des Friedhofs ging und dann zwischen Leuten verschwand. Warum bin ich Narr nicht mitgegangen, fällt mir jetzt in diesem Augenblick ein. Wir hatten verabredet, sie würde mich um 3 Uhr antelephonieren und auf die Bahn kommen, aber ich möchte jedenfalls um 4.30 fahren, übrigens könne sie auch nicht versprechen, dass sie abend frei sein werde, jedenfalls müsse sie ihren Bruder (von der Auflösung der Verlobung erfuhr ich übrigens nichts), der nach Brüssel fahre, um 6 Uhr zur Bahn begleiten. Ich mittagmahlte, lief dann ins Hotel und wollte auf den Anruf warten, aber es war erst 1 Uhr, es regnete langsam und unaufhörlich, ich war ein wenig trostlos und fuhr zu einem guten Bekannten nach Schöneberg, denn im Hotel war es wirklich nicht zum Aushalten. Um ¾3 riß ich mich von meinem Bekannten los, das Unglück, den Anruf zu versäumen, wollte ich nicht erleben. Ich kam genau 3 Uhr zurück, ich hatte nichts versäumt, ich war noch nicht angerufen worden. Und nun fing das Warten an. Ich saß in der Vorhalle des Hotels und schaute in den Regen, ich ging hinauf und warf meine paar Sachen in die Handtasche, ich ging wieder hinunter und setzte mich und die Uhr ruhte nicht, bis es wirklich 4 Uhr vorüber war und ich zur Bahn mußte. Nun konnte F. freilich noch auf der Bahn sein, aber das wäre schon ein Wunder gewesen und ist auch nicht geschehn. Der Regen kann sie gehindert haben, zur Bahn zu gehn, aber zu telephonieren kann sie niemand gehindert haben. So bin ich von Berlin weggefahren, wie einer, der ganz unberechtigterweise hingekommen ist. Und darin lag allerdings eine Art Sinn.

Aber die Worte verdrehn sich mir, ich kann nicht schreiben, Sie haben mich in einem solchen elenden Zustand kennengelernt, dass ich ohne die Annahme einer ungeheueren Lebenskraft auf Ihrer Seite nicht verstehen könnte, wie Sie es nach dieser Art des Kennenlernens nur 2 Minuten ernstlich neben mir ausgehalten haben. Aber nicht nur das, ich bin sogar nicht imstande zu sagen, ob dieser Brief eine widerliche oder eitle anständige Gesinnung ausdrückt, trotzdem ich natürlich viel eher das erstere glaube und fühle. Aber jetzt genug, es ist auch bald Mitternacht.

Ihr Franz K.




einem guten Bekannten: Ernst Weiß (1884-1940). Kafka hatte den aus Brünn stammenden, später in Berlin lebenden Arzt und Schriftsteller Ende Juni 1913 in Prag kennengelernt. Im September desselben Jahres sah er ihn in Wien wieder, und zwar im Kreise von Albert Ehrenstein, Felix Stössinger und Otto Pick. Vgl. Briefe, S. 120. Ernst Weiß, der Felice Mitte Dezember 1913 in Berlin kennenlernte, hat Kafka stets von einer Ehe mit Felice abgeraten. (Im Brief an Grete Bloch vom 18. Mai 1914, S. 580, nennt Kafka ihn "F.s Feind".) Er war schließlich am 12. Juli 1914 bei der Lösung des Verlöbnisses im Hotel >Askanischer Hof< in Berlin zugegen und verbrachte danach mit Kafka seinen Sommerurlaub an der Ostsee. - Als Kafka im Januar 1915 die Verbindung mit Felice wieder aufnahm, notierte er im Tagebuch: "Dr.W. sucht mich zu überzeugen, dass F. hassenswert ist, F. sucht mich zu überzeugen, dass W. hassenswert ist. Ich glaube beiden und liebe beide oder strebe danach." Tagebücher (24. Januar 1915), S. 461.


Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at