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An Felice Bauer

6.X1.13
 


Ich komme also Samstag, Felice, ich fahre hier um 3 Uhr nachmittags weg, Sonntag um 4 oder 5 muß ich dann von Berlin wegfahren. Ich werde im Askanischen Hof wohnen.

Ich sehe ein, es ist unbedingt notwendig, dass wir zusammenkommen. Zuerst wollte ich erst Weihnachten fahren, dann kam Dein Brief und Deine Freundin Grete Bloch, da entschloß ich mich, diesen Samstag zu fahren; dann war Deine Freundin weg, von Dir kam kein Brief, kleinere Hindernisse traten ein, da wollte ich die Reise auf den Samstag in 14 Tagen verschieben (von Samstag in einer Woche fährt Max nach Berlin, und ich wollte allein fahren). Nach den Erfahrungen jedoch, die ich in dieser Woche an mir gemacht habe - ich bin ganz sinnlos -, und nachdem heute Dein Brief gekommen ist, fahre ich also Samstag. Sollte mich plötzlich etwas abhalten, telegraphiere ich.

Hoffst Du wirklich darauf, Felice, dass unser Beisammensein uns Klarheit bringen wird? dass es unbedingt notwendig ist, glaube ich auch, aber dass es uns Klarheit bringen wird? Wo ich bin, ist keine Klarheit. Erinnerst Du Dich nicht, dass Du nach jedem Beisammensein unsicherer warst als sonst? dass wir nur in Briefen über alle Zweifel klar waren, in Briefen, die den bessern Teil meines Selbst enthielten ?

Nun, wir werden sehn, und der Himmel soll mit uns Einsicht haben.


Franz


Die zwei Zettel aus Desenzano habe ich gefunden, sie liegen bei. Weißt Du, dass ich seit dem Winter vorigen Jahres keine Zeile geschrieben habe, die bestehen kann?


[Die zwei beigelegten Zettel]


Desenzano, am Gardasee, Sonntag [21. September 1913], im Gras, vor mir die Wellen im Schilf, der Ausblick ist für mich umgrenzt von der Landzunge von Sirmione rechts, links vom Seeufer bis Manerba, sonnig, jetzt haben sich 2 Arbeiter in der Nähe ins Gras gelegt.

Mein einziges Glücksgefühl besteht darin, dass niemand weiß, wo ich bin. Wüßte ich eine Möglichkeit, das für immer fortzusetzen! Es wäre noch viel gerechter als Sterben. Ich bin in allen Winkeln meines Wesens leer und sinnlos, selbst im Gefühl meines Unglücks. Ginge es doch jetzt statt ins Sanatorium auf eine Insel, wo niemand ist.

Dieses Klagen erleichtert mich aber nicht, ich bleibe gänzlich unbewegt, bin wie ein großer Stein, in dessen Allerinnerstem das Lichtchen einer kleinen Seele flackert. Heute träumte ich von Dir und Deinem Vater, ich könnte mich an die Einzelheiten erinnern, aber ich will nicht daran denken. Nur das weiß ich, dass ich ihm schon in der Türe noch antwortete: "Aber vielleicht bin ich nur krank."

Tagebuch führe ich überhaupt keines, ich wüßte nicht, warum ich es führen sollte, mir begegnet nichts was mich im Innersten bewegt. Das gilt auch wenn ich weine wie gestern in einem Kinematographentheater in Verona. Das Genießen menschlicher Beziehungen ist mir gegeben, ihr Erleben nicht. Das kann ich immer wieder nachprüfen, gestern bei einem Volksfest in Verona, früher vor den Hochzeitsreisenden in Venedig.




ins Sanatorium: Kafka fuhr am folgenden Tage von Desenzano nach Riva in das Sanatorium Dr. von Hartungen.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at