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An Felice Bauer

[Stempel: Prag - 29. X. 13]
 


Ich will versuchen, Felice, nicht nur für Dich, sondern auch für mich bis zur Grenze der möglichen Klarheit zu kommen.

Als ich Dir aus Venedig schrieb, wußte ich nicht mit Bestimmtheit, dass es der letzte Brief in der bis dahin ununterbrochenen Reihe sein würde. Als es aber nachher so kam (die Karte aus Verona war eine Ohnmacht, keine Karte), glaubte ich das Richtigste seit langer Zeit getan zu haben. Es war mir leichter gemacht dadurch, dass ich von Dir nichts hörte. Deine letzte Nachricht war das Telegramm in Venedig, welches einen Brief ankündigte, der nicht kam. Ich hielt es nicht für unwahrscheinlich, dass Du später noch nach Venedig geschrieben hast, dass aber der Brief nicht mehr bis zu mir kam, denn der italienische Postbeamte hat den Fetzen Papier, auf den er mich meine Rivaer Adresse hatte schreiben lassen, derart in eine Ecke geworfen, dass er kaum jemals wieder hervorgekommen ist. Trotzdem schrieb ich nicht. Nein, ich schrieb doch noch einmal, gleich am Tag nach der Karte aus Verona, ich war damals in Desenzano, lag im Gras, wartete auf den Dampfer, mit dem ich nach Gardone fahren wollte, und schrieb an Dich. Ich habe den Brief nicht weggeschickt, vielleicht habe ich ihn noch irgendwo, verlange ihn aber nicht zu sehn, er war zusammengestoppelt, noch die Bindewörter hatte ich erfinden müssen, widerlich war das, dort in Desenzano war ich wirklich am Ende.

Du aber, Felice, hattest nun meine Zettel aus Wien und meinen Brief aus Venedig und Du dachtest nicht, dass es das Richtige war? Das einzige Richtige? dass ich mich wegreißen mußte, wenn Du mich nicht verstoßen wolltest? Du dachtest das nicht? Denkst es auch heute nicht? Aber wie verbindest Du diese Unmöglichkeiten: Wie kann ich in eine neue Familie eintreten und dann eine Familie begründen, ich, der ich in meiner eigenen Familie so locker sitze, dass ich mich von keiner Seite mit jemandem zu berühren glaube? Ich, der ich vielleicht mitgenießen aber nicht mitleben kann, so sehr ich mir auch Mühe geben würde? Ich, der ich mich nicht getraue, Wahrheit dauernd im Zusammenleben zu erhalten und der ich ohne Wahrheit ein Zusammenleben nicht ertragen könnte? Du siehst, ich konnte mein Tagebuch nicht vorlegen, habe übrigens außer den Blättern, die ich Dir geschickt habe, kein Wort mehr geschrieben. Ein dauerndes Zusammenleben ist für mich ohne Lüge ebenso unmöglich wie ohne Wahrheit. Der erste Blick, mit dem ich Deine Eltern ansehn würde, wäre Lüge.

Aber nicht allein das geht in mir vor. Ein Verlangen habe ich nach Dir, dass es mir auf der Brust liegt wie Tränen, die man nicht herausweinen kann. (Aber nicht Schmerzen im Kopf, nicht Herzklopfen, nur eine mittlere, nicht die äußerste Schlaflosigkeit - alles das beginnt erst heute wieder.) Gestern starrte ich ein Mädchen im Seminar eine Stunde lang an, weil sie Dir ein wenig ähnlich war [2]. Ich machte mir schon seit Wochen Pläne für Weihnachten, wie ich das ganze Glück doch zusammenraffen könnte im letzten Augenblick. Nein, es ist dafür gesorgt, dass mich jede Wirklichkeit so gegen die Stirn schlägt, dass ich wieder zur Besinnung komme. Wenn Du mich aber jetzt fragen würdest, warum ich von solchen Plänen schreibe, wenn ich die entgegengesetzte Überzeugung habe, wüßte ich fast nur zu antworten: "Es ist lauter Schurkerei. In einer bestimmten, nicht der tiefsten Tiefe will ich nichts anderes als zu Dir hingerissen werden, und auch dass ich es sage ist noch Schurkerei." Du hast, Felice, nicht die geringste Schuld, dass wir in solchem Unglück sind, die gehört ganz mir. Du weißt es vielleicht gar nicht ganz, wie sehr sie mir gehört, Deine Briefe aus den letzten Monaten waren im Grunde, wenn Du es überlegst, nichts (vom Leid abgesehn) als Staunen über die Möglichkeit eines solchen Menschen wie ich es bin. Du konntest nicht daran glauben. Du kannst es nicht leugnen. Wäre es nicht so, dann hättest Du z. B. nicht schreiben können, dass Deine Mutter ihre Liebe zu Dir auf mich überträgt, Du hättest nicht die Überlegungen Deiner Eltern beschreiben können mit dem Schlußsatz "blieb also nur eine Neigungsheirat", Du hättest nicht unsere Verlobung und die Feiertage in Verbindung bringen können. Und doch bin ich so, Du mußt es glauben.

Franz




Desenzano: Die Aufzeichnungen aus Desenzano hat Kafka später gefunden und seinem Brief an Felice vom 6. November 1913, S. 4'71 f., beigelegt.


ein Mädchen im Seminar: Dieses Mädchen aus dem Seminar - Kafka besuchte damals gelegentlich das Seminar von Christian von Ehrenfels, Professor der Philosophie an der Prager deutschen Universität - wird später nochmals in den Tagebüchern erwähnt. Vgl. Tagebücher (14. Dezeniber 1913), S. 344


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Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at