Voriger Eintrag | Jahresübersicht | Indexseite | Nächster Eintrag |
[Briefkopf Abgeordnetenhaus
An Felice Bauer
Das Tagebuch über Wien setze ich nicht fort. Wenn ich die Tage in
Wien ungeschehen machen könnte - und zwar von der Wurzel aus -, so
wäre es das beste. Morgen früh 8.45 fahre ich nach Triest, komme
dort 9.10 abends an. Montag fahre ich nach Venedig. Ich schlafe besser,
bin aber innerlich unsicher gegen alle Seiten hin. Im übrigen fahre
ich jetzt allein und werde sehn können, ob der Widerwille gegen meine
Reisebegleitung größer war als meine Unfähigkeit zu selbständigen
Handlungen, zu fremden Sprachen, zu glücklichen Zufällen. Das
Telegramm habe ich bekommen. Meine Adresse ist Venedig, poste restante;
wehrt ich wahrscheinlich auch nicht lange dort bleibe, so wird mir doch
alles nachgeschickt.
[Aufzeichnungen aus der Zeit vom 6., 7. u. 8. September 1913 auf vier beiderseitig
beschriebenen Notizbuchblättern. Am oberen Rand des ersten Blattes
am 10. Sept. 1913
Zwischen den Säulen der Vorhalle des Parlamentes. Warte auf meinen
Direktor. Großer Regen. Vor mir Athene Parthenos mit Goldhelm.
6/IX Fahrt nach Wien. Dummes Literaturgeschwätz mit Pick. Ziemlicher
Widerwillen. So (wie P.) hängt man an der Kugel der Literatur und
kann nicht los, weil man die Fingernägel hineingebohrt hat, im übrigen
aber ist man ein freier Mann und zappelt mit den Beinen zum Erbarmen. Seine
Nasenblaskunststücke. Er tyrannisiert mich, indem er behauptet, ich
tyrannisiere ihn. - Der Beobachter in der Ecke. -Bahnhof Heiligenstadt,
leer mit leeren Zügen. In der Ferne sucht ein Mann den plakatierten
Fahrplan ab. (Jetzt sitze ich auf der Stufe der Herme eines Theophil Hansen.)
Gebeugt, im Mantel, das Gesicht vergeht gegen das gelbe Plakat gehalten.
Vorbeifahren an einem kleinen Terrassengasthaus. Gehobener Arm eines Gastes.
Wien. Dumme Unsicherheiten, die ich schließlich alle respektiere.
Hotel Matschakerhof. 2 Zimmer mit einem Zugang. Wähle das vordere.
Unerträgliche Wirtschaft. Muß mit P. noch auf die Gasse. Laufe
angeblich zu sehr, laufe noch stärker. Windige Luft. Erkenne alles
Vergessene wieder. Schlechter Schlaf. Voll Sorgen. Ein widerlicher Traum*.
(Die Frage des Tagebuches ist gleichzeitig die Frage des Ganzen, enthält
alle Unmöglichkeiten des Ganzen. In der Eisenbahn überlegte ich
es unter dem Gespräch mit P. Es ist unmöglich, alles zu sagen
und und es ist unmöglich, nicht alles zu sagen. Unmöglich die
Freiheit zu bewahren, unmöglich sie nicht zu bewahren. Unmöglich
das einzig mögliche Leben zu führen, nämlich beisammenleben,
jeder frei, jeder für sich, weder äußerlich noch wirklich
verheiratet sein, nur beisammen sein und damit den letzten möglichen
Schritt über Männerfreundschaft hinaus getan haben, ganz knapp
an die mir gesetzte Grenze, wo sich schon der Fuß aufrichtet. Aber
auch das ist eben unmöglich. Letzte Woche fiel mir das einmal vormittag
als Ausweg ein, ich wollte es nachmittag schreiben. Nachmittag bekam ich
eine Biographie Grillparzers. Er hat das getan, gerade
das. (Eben betrachtet ein Herr den Theophil Hansen, ich sitze wie seine
Klio.) Aber wie unerträglich, sündhaft, widerlich war dieses
Leben und doch gerade noch so wie ich es vielleicht unter größern
Leiden als er, denn ich bin viel schwächer in manchem, zustandebrächte.
Später noch darauf zurückkommen **.) Abend noch Lise
Weltsch getroffen.
7/IX Widerwillen vor P. Ein sehr braver Mensch im ganzen. Hat immer eine
kleine unangenehme Lücke in seinem Wesen gehabt und gerade aus dieser
kriecht er, wenn man jetzt dauernd zuschaut, in seiner Gänze heraus.
Früh im Parlament. Vorher im Residenzkaffee Eintrittskarten zum Zionistenkongreß
von Lise W. geholt. Zu Ehrenstein gefahren. Ottakring.
Mit seinen Gedichten weiß ich nicht viel anzufangen[3]. (Ich bin
sehr unruhig und infolgedessen auch ein wenig unwahr, und das, weil ich
dieses nicht für mich allein schreibe.) In der Thalisia
mit beiden.
Mit ihnen und Lise W. im Prater. Mitleid und Langweile. Sie kommt nach
Berlin ins zionistische Bureau. Klagt über die Sentimentalität
ihrer Familie, windet sich doch nur wie eine festgenagelte Schlange. Ihr
ist nicht zu helfen. Mitgefühl mit solchen Mädchen (auf irgendeinem
Umweg über mich) ist vielleicht mein stärkstes sociales Gefühl.
Photographieren, Schießen, "Ein Tag im Urwalde" Karussell
(wie sie hilflos oben sitzt, das sich bauschende Kleid, gut gemacht, elend
getragen.) Mit ihrem Vater im Praterkaffee. Gondelteich. Unaufhörliche
Kopfschmerzen. Die W. gehn zu Monna Vanna. Liege 10. Stunden im Bette,
schlafe 5. Verzicht auf die Theaterkarte.
8. [IX.] Zionistischer Kongreß. Der Typus kleiner runder Köpfe,
fester Wangen. Der Arbeiterdelegierte aus Palästina, ewiges Geschrei.
Tochter Herzls. Der frühere Gymnasialdirektor von Jaffa. Aufrecht
auf einer Treppenstufe, verwischter Bart, bewegter Rock. Ergebnislose deutsche
Reden, viel hebräisch, Hauptarbeit in den kleinen Sitzungen. Lise
W. läßt sich vom Ganzen nur mitschleppen, ohne dabeizusein,
wirft Papierkügelchen in den Saal, trostlos. Frau Thein.
* [Unter "Traum"] (Malek)
** [Über "zurückkommen"] Traum
Biographie Grillparzers:Die Grillparzer-Biographie
Heinrich Laubes, aus der Kafka in seiner Karte vom 7. September 1913, S.
462, zitiert.
Lise Weltsch: Schwester des Schriftstellers Robert
Weltsch und Cousine von Kafkas Freund Felix Weltsch, später Frau Lise
Kaznelson.
Ehrenstein: Der Lyriker und Erzähler Albert
Ehrenstein (1886-1950). Vgl. Gustav Janouch, Gespräche mit Kafka,
Frankfurt am Main 1951, S. 51 f.
Thalisia: Vegetarisches Restaurant in Wien.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at