Voriger Eintrag Jahresübersicht | IndexseiteNächster Eintrag

 

An Felice Bauer

7.VI.13 [7.Juli 1913]
 


Siehst Du, Felice, schon leidest Du durch mich, es fängt schon an und Gott weiß, wie es enden wird. Und dieses Leiden ist, ich sehe es ja ganz deutlich, näher, ärger, allseitiger als das Leid, das ich Dir bisher angetan habe. Die Frage, ob ich schuld bin, kommt dabei gar nicht in Betracht, und fast könnte man sogar vom Anlaß absehn. Dir ist jedenfalls ein sch-,veres Unrecht geschehn, und das allein bleibt zu überlegen, nämlich wie ich mich dazu stelle und was es bedeutet.

Ob meine Mutter recht oder unrecht hat, ist vollständig gleichgültig. Gewiß, sie hat recht und mehr als Du glaubst. Sie weiß fast gar nichts von Dir, als was in jenem Brief gestanden ist, den Du ihr damals geschrieben hast. Außerdem hat sie nur von mir gehört, dass ich Dich heiraten will. Sonst weiß sie nichts, denn aus mir ist ja kein Wort herauszubringen. Ich kann mit niemandem reden, aber mit meinen Eltern ganz besonders nicht. Es ist, als ob mir der Anblick derer, von denen ich herkomme, Entsetzen erregt. Wir waren gestern alle, die Eltern, die Schwester und ich, durch einen Zufall gezwungen, auf einer kotigen Landstraße schon im Dunkel etwa eine Stunde lang zu gehn. Die Mutter war natürlich trotz aller Mühe, die sie sich gab, sehr ungeschickt gegangen und hatte die Stiefel und gewiß auch die Strümpfe und Röcke ganz beschmutzt. Nun bildete sie sich aber ein, nicht so eingeschmutzt zu sein, wie es zu erwarten gewesen wäre, und verlangte dafür zuhause, im Scherz natürlich, Anerkennung, indem sie verlangte, dass ich ihre Stiefel anschaue, sie seien ja gar nicht so schmutzig. Ich aber war, glaube mir, ganz außerstande hinunterzuschauen, und nur aus Widerwillen und nicht etwa aus Widerwillen vor dem Schmutz. Dagegen hatte ich wie schon den ganzen gestrigen Nachmittag fast eine kleine Zuneigung zum Vater oder besser Bewunderung für ihn, der imstande war, das alles zu ertragen, die Mutter und mich und die Familien der Schwestern auf dem Lande und die Unordnung dort in der Sommerwohnung, wo Watte neben dem Teller liegt, wo auf den Betten eine widerliche Mischung aller möglichen Dinge zu sehen ist, wo in einem Bett die mittlere Schwester liegt, denn sie hat eine leichte Halsentzündung und ihr Mann sitzt bei ihr und nennt sie im Scherz und Ernst "mein Gold" und "mein Alles", wo der kleine Junge in der Mitte des Zimmers, wie er nicht anders kann, während man mit ihm spielt, auf den Fußboden seine Notdurft verrichtet, wo zwei Dienstmädchen sich mit allen möglichen Dienstleistungen durchdrängen, wo die Mutter durchaus alle bedient, wo Gansleberfett auf das Brot geschmiert wird und günstigsten Falles auf die Hände tropft. Ich gebe Auskünfte, wie? Dabei gerate ich aber in etwas ganz Falsches, indem ich meine Unfähigkeit, das zu ertragen, in den Tatsachen suche, statt in mir. Es ist alles tausendmal weniger so arg, als ich es hier und früher beschrieben habe, aber tausendmal stärker, als ich ihn beschreiben könnte, ist mein Widerwillen vor alledem. Nicht weil es Verwandte sind, sondern nur deshalb, weil es Menschen sind, halte ich es in den Zimmern mit ihnen nicht aus, und nur um das wieder bestätigt zu finden, fahre ich Sonntag nachmittag hinaus, trotzdem dazu glücklicherweise kein Zwang besteht. Ich war gestern ganz zugeschnürt vor Ekel, ich suchte die Tür fast wie im Dunkeln und erst weit vom Haus auf der Landstraße war mir wohler, wenn sich auch so viel aufgehäuft hatte, dass es noch heute nicht gelöst ist. Ich kann nicht mit Menschen leben, ich hasse unbedingt alle meine Verwandten, nicht deshalb, weil es meine Verwandten sind, nicht deshalb, weil sie schlechte Menschen wären, nicht deshalb, weil ich von ihnen nicht das Beste dächte (das beseitigt die "furchtbare Scheu" ganz und gar nicht, wie Du meinst), sondern einfach deshalb, weil es die Menschen sind, die mir zunächst leben. Ich kann eben das Zusammenleben mit Menschen nicht ertragen, ja ich habe fast nicht die Kraft, es als Unglück zu empfunden. Im unbeteiligten Anblick freuen mich alle Menschen, aber diese Freude ist nicht so groß, als dass ich nicht in einer Wüste, in einem Wald, auf einer Insel bei den nötigen körperlichen Voraussetzungen unvergleichlich gücklicher leben wollte als hier in meinem Zimmer zwischen dem Schlafzimmer und dem Wohnzimmer meiner Eltern. Ich hatte gewiß nicht die Absicht, Dir ein Leid zu tun und habe es Dir getan, ich werde folgerichtig niemals die Absicht haben, Dir ein Leid zu tun und werde es Dir immer tun. (Die Sache mit der Auskunft ist vorläufig ohne Bedeutung, die Mutter hat Freitag nichts unternommen, da sie noch mit dem Vater reden wollte, Samstag kam keine Antwort von Dir, in meinem Schuldbewußtsein Dir gegenüber sagte ich der Mutter, sie möge noch warten, da Sonntag kein Brief kam, zog ich nachmittag meine Erlaubnis, die ich der Mutter gegeben hatte, wieder zurück.) Hüte Dich, Felice, das Leben für banal zu halten, wenn banal einförmig, einfach, kleinsinnig heißen soll, das Leben ist bloß schrecklich, das empfinde ich, wie kaum ein anderer. Oft - und im Innersten vielleicht ununterbrochen - zweifle ich daran, ein Mensch zu sein. Die Kränkung, die ich Dir angetan habe, ist nur ein zufälliger Anlaß, der mir das zum Bewußtsein bringt. Ich weiß mir wirklich keinen Rat.

Franz


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at