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An Felice Bauer
Siehst Du, Felice, schon leidest Du durch mich, es fängt schon an
und Gott weiß, wie es enden wird. Und dieses Leiden ist, ich sehe
es ja ganz deutlich, näher, ärger, allseitiger als das Leid,
das ich Dir bisher angetan habe. Die Frage, ob ich schuld bin, kommt dabei
gar nicht in Betracht, und fast könnte man sogar vom Anlaß absehn.
Dir ist jedenfalls ein sch-,veres Unrecht geschehn, und das allein bleibt
zu überlegen, nämlich wie ich mich dazu stelle und was es bedeutet.
Ob meine Mutter recht oder unrecht hat, ist vollständig gleichgültig.
Gewiß, sie hat recht und mehr als Du glaubst. Sie weiß fast
gar nichts von Dir, als was in jenem Brief gestanden ist, den Du ihr damals
geschrieben hast. Außerdem hat sie nur von mir gehört, dass
ich Dich heiraten will. Sonst weiß sie nichts, denn aus mir ist ja
kein Wort herauszubringen. Ich kann mit niemandem reden, aber mit meinen
Eltern ganz besonders nicht. Es ist, als ob mir der Anblick derer, von
denen ich herkomme, Entsetzen erregt. Wir waren gestern alle, die Eltern,
die Schwester und ich, durch einen Zufall gezwungen, auf einer kotigen
Landstraße schon im Dunkel etwa eine Stunde lang zu gehn. Die Mutter
war natürlich trotz aller Mühe, die sie sich gab, sehr ungeschickt
gegangen und hatte die Stiefel und gewiß auch die Strümpfe und
Röcke ganz beschmutzt. Nun bildete sie sich aber ein, nicht so eingeschmutzt
zu sein, wie es zu erwarten gewesen wäre, und verlangte dafür
zuhause, im Scherz natürlich, Anerkennung, indem sie verlangte, dass
ich ihre Stiefel anschaue, sie seien ja gar nicht so schmutzig. Ich aber
war, glaube mir, ganz außerstande hinunterzuschauen, und nur aus
Widerwillen und nicht etwa aus Widerwillen vor dem Schmutz. Dagegen hatte
ich wie schon den ganzen gestrigen Nachmittag fast eine kleine Zuneigung
zum Vater oder besser Bewunderung für ihn, der imstande war, das alles
zu ertragen, die Mutter und mich und die Familien der Schwestern auf dem
Lande und die Unordnung dort in der Sommerwohnung, wo Watte neben dem Teller
liegt, wo auf den Betten eine widerliche Mischung aller möglichen
Dinge zu sehen ist, wo in einem Bett die mittlere Schwester liegt, denn
sie hat eine leichte Halsentzündung und ihr Mann sitzt bei ihr und
nennt sie im Scherz und Ernst "mein Gold" und "mein Alles",
wo der kleine Junge in der Mitte des Zimmers, wie er nicht anders kann,
während man mit ihm spielt, auf den Fußboden seine Notdurft
verrichtet, wo zwei Dienstmädchen sich mit allen möglichen Dienstleistungen
durchdrängen, wo die Mutter durchaus alle bedient, wo Gansleberfett
auf das Brot geschmiert wird und günstigsten Falles auf die Hände
tropft. Ich gebe Auskünfte, wie? Dabei gerate ich aber in etwas ganz
Falsches, indem ich meine Unfähigkeit, das zu ertragen, in den Tatsachen
suche, statt in mir. Es ist alles tausendmal weniger so arg, als ich es
hier und früher beschrieben habe, aber tausendmal stärker, als
ich ihn beschreiben könnte, ist mein Widerwillen vor alledem. Nicht
weil es Verwandte sind, sondern nur deshalb, weil es Menschen sind, halte
ich es in den Zimmern mit ihnen nicht aus, und nur um das wieder bestätigt
zu finden, fahre ich Sonntag nachmittag hinaus, trotzdem dazu glücklicherweise
kein Zwang besteht. Ich war gestern ganz zugeschnürt vor Ekel, ich
suchte die Tür fast wie im Dunkeln und erst weit vom Haus auf der
Landstraße war mir wohler, wenn sich auch so viel aufgehäuft
hatte, dass es noch heute nicht gelöst ist. Ich kann nicht mit
Menschen leben, ich hasse unbedingt alle meine Verwandten, nicht deshalb,
weil es meine Verwandten sind, nicht deshalb, weil sie schlechte Menschen
wären, nicht deshalb, weil ich von ihnen nicht das Beste dächte
(das beseitigt die "furchtbare Scheu" ganz und gar nicht, wie
Du meinst), sondern einfach deshalb, weil es die Menschen sind, die mir
zunächst leben. Ich kann eben das Zusammenleben mit Menschen nicht
ertragen, ja ich habe fast nicht die Kraft, es als Unglück zu empfunden.
Im unbeteiligten Anblick freuen mich alle Menschen, aber diese Freude ist
nicht so groß, als dass ich nicht in einer Wüste, in einem
Wald, auf einer Insel bei den nötigen körperlichen Voraussetzungen
unvergleichlich gücklicher leben wollte als hier in meinem Zimmer
zwischen dem Schlafzimmer und dem Wohnzimmer meiner Eltern. Ich hatte gewiß
nicht die Absicht, Dir ein Leid zu tun und habe es Dir getan, ich werde
folgerichtig niemals die Absicht haben, Dir ein Leid zu tun und werde es
Dir immer tun. (Die Sache mit der Auskunft ist vorläufig ohne Bedeutung,
die Mutter hat Freitag nichts unternommen, da sie noch mit dem Vater reden
wollte, Samstag kam keine Antwort von Dir, in meinem Schuldbewußtsein
Dir gegenüber sagte ich der Mutter, sie möge noch warten, da
Sonntag kein Brief kam, zog ich nachmittag meine Erlaubnis, die ich der
Mutter gegeben hatte, wieder zurück.) Hüte Dich, Felice, das
Leben für banal zu halten, wenn banal einförmig, einfach, kleinsinnig
heißen soll, das Leben ist bloß schrecklich, das empfinde ich,
wie kaum ein anderer. Oft - und im Innersten vielleicht ununterbrochen
- zweifle ich daran, ein Mensch zu sein. Die Kränkung, die ich Dir
angetan habe, ist nur ein zufälliger Anlaß, der mir das zum
Bewußtsein bringt. Ich weiß mir wirklich keinen Rat.
Franz
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at