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An Felice Bauer
Liebste Felice, gerade habe ich paar Worte mit meiner Schwester gesprochen,
die im Bett liegt, und mit dem Fräulein, das bei ihr ist. Meine Schwester
ist brav und gut, das Fräulein die ergebenste Person, und doch habe
ich die paar Worte in der äußersten Gereiztheit gesprochen und
mir verlangt aus dem Zimmer hinauszukommen, in dem sie mich mit Fragen
zu halten suchten. Für die Gereiztheit war nicht der geringste Grund
auf Seite der Schwester und des Fräuleins, es war auch keine Möglichkeit,
die Gereiztheit zu äußern, und so mußte ich in diesem
schändlichen Zustand abziehn und in einem Brief an Dich irgendeine
Reinigung suchen. Aber auch darin bin ich unsicher, denn ich hatte heute
keinen Brief von Dir, und kann ich mich nicht an ein frisches Wort von
Dir hängen, bin ich wie im Leeren.
Nun ist also Dein Vater schon wieder da und der Brief noch immer nicht
geschrieben, aber Dein letzter Brief ist auch vielleicht der erste seit
langer Zeit, in dem Du etwas "offen und ehrlich" hören
willst und selbst irgendeine Befangenheit und Schweigsamkeit ablegst.
Du erkennst doch schon gewiß meine eigentümliche Lage. Zwischen
mir und Dir steht von allem andern abgesehn der Arzt. Was er sagen wird
ist zweifelhaft, bei solchen Entscheidungen entscheidet nicht so sehr medicinische
Diagnose, wäre es so, dann stünde es nicht dafür, sie in
Anspruch zu nehmen. Ich war wie gesagt nicht eigentlich krank, bin es aber
doch. Es ist möglich, dass andere Lebensverhältnisse mich
gesund machen könnten, aber es ist unmöglich, diese andern Lebensverhältnisse
hervorzurufen. Bei der ärztlichen Entscheidung (die, wie ich schon
jetzt sagen kann, nicht unbedingt für mich Entscheidung sein wird)
wird nur der Charakter des urbekannten Arztes entscheiden. Mein Hausarzt
z. B. würde in seiner stupiden Unverantwortlichkeit nicht das geringste
Hindernis sehn, im Gegenteil; ein anderer, besserer Arzt wird vielleicht
die Hände über dem Kopf zusammenschlagen.
Nun bedenke, Felice, angesichts dieser Unsicherheit läßt sich
schwer das Wort hervorbringen und es muß sich auch sonderbar anhören.
Es ist eben zu bald, um es zu sagen. Nachher aber ist es doch auch wieder
zu spät, dann ist keine Zeit mehr zur Besprechung solcher Dinge, wie
Du sie in Deinem letzten Brief erwähnst. Aber zu langem Zögern
ist nicht mehr Zeit, wenigstens fühle ich das so, und deshalb frage
ich also: Willst Du unter der obigen, leider nicht zu beseitigenden Voraussetzung
überlegen, ob Du meine Frau werden willst? Willst Du das?
An dieser Stelle habe ich vor einigen Tagen aufgehört und habe es
seitdem nicht fortgesetzt. Ich verstehe es sehr gut, warum ich das nicht
konnte. Es ist im Grunde nämlich eine verbrecherische Frage. die ich
an Dich stelle (das erkenne ich wieder an Deinem heutigen Brief), aber
in dem Widerstreit der Kräfte siegen die, die diese Frage stellen
müssen.
Was Du von Ebenbürtigkeit und solchen Dingen sprichst, ist, wenn
dadurch nicht (Dir natürlich unbewußt) anderes verdeckt werden
soll, nichts als Phantasie. Ich bin ja nichts, gar nichts. Ich bin
"in allem weiter" als Du? Ein wenig Menschen zu beurteilen
und in Menschen mich einzufühlen, das verstehe ich, aber ich glaube
nicht, jemals mit einem Menschen zusammengekommen zu sein, der auf die
Dauer, im Durchschnitt, und zwar hier im Leben, im Menschenverkchr (um
was handelt es sich denn sonst?) kümmerlicher wäre als ich. Ich
habe kein Gedächtnis, weder für Gelerntes noch für Gelesenes,
weder für Erlebtes noch für Gehörtes, weder für Menschen
noch für Vorgänge, mir ist, als hätte ich nichts erlebt,
als hätte ich nichts gelernt, ich weiß tatsächlich von
den meisten Dingen weniger als kleine Schulkinder, und was ich weiß,
weiß ich so oberflächlich, dass ich schon der zweiten Frage
nicht mehr entsprechen kann. Ich kann nicht denken, in meinem Denken stoße
ich immerfort an Grenzen, im Sprung kann ich noch einzelweise manches erfassen,
zusammenhängendes, entwicklungsmäßiges Denken ist mir ganz
unmöglich. Ich kann auch nicht eigentlich erzählen, ja fast nicht
einmal reden; wenn ich erzähle, habe ich meistens ein Gefühl,
wie es kleine Kinder haben könnten, die die ersten Gehversuche machen,
aber noch nicht aus eigenem Bedürfnis, sondern weil es die erwachsene,
tadellos gehende Familie so will. Einem solchen Menschen fühlst Du
Dich nicht ebenbürtig, Felice, die Du lustig, lebendig, sicher und
gesund bist? Das einzige, was ich habe, sind irgendwelche Kräfte,
die sich in einer im normalen Zustand gar nicht erkennbaren Tiefe zur Literatur
koncentrieren, denen ich mich aber bei meinen gegenwärtigen beruflichen
und körperlichen Verhältnissen gar nicht anzuvertrauen wage,
denn allen innern Mahnungen dieser Kräfte stehen zumindest ebensoviel
innere Warnungen gegenüber. Dürfte ich mich ihnen anvertrauen,
so würden sie mich freilich, das glaube ich bestimmt, mit einemmal
aus allem diesem innern Jammer heraustragen.
Nur zur theoretischen Ausführung der Frage der Ebenbürtigkeit,
denn praktisch kommt sie, wie gesagt, nicht in Betracht, wenigstens nicht
in Deinem Sinne - muß ich noch hiiizufügen, dass eine derartige
Übereinstimmung in Bildung, in Kenntnissen, in höheren Bestrebungen
und Auffassungen, wie Du sie für eine glückliche Ehe zu fordern
scheinst, meiner Meinung nach erstens fast ummöglich, zweitens nebensächlich
und drittens nicht einmal gut und wünschenswert ist. Was eine Ehe
verlangt, ist menschliche Übereinstimmung, also Übereinstimmung
noch tief unter allen Meinungen, also eine Übereinstimmung, die nicht
zu überprüfen, sondern nur zu fühlen ist, also eine Notwendigkeit
menschlichen Beisammenseins. Dadurch wird aber die Freiheit des einzelnen
nicht im geringsten gestört, die wird eben nur gestört durch
das nicht notwendige menschliche Beisammensein, aus dein der größte
Teil unseres Lebens besteht.
Du sagst, es wäre denkbar, dass ich das Zusainmenleben mit Dir
nicht ertragen könnte. Damit rührst Du fast an etwas Richtiges,
nur von einer ganz andern Seite, als Du meinst. Ich glaube wirklich, ich
bin für den menschlichen Verkehr verloren. Ein fortgesetztes, lebendig
sich aufbauendes Gespräch mit einem einzelnen zu führen bin ich
gänzlich außerstande, einzelne ausnahmsweise, schrecklich ausnahmsweise
Zeiten abgerechnet. Ich war z. B. mit Max in den vielen Jahren, seitdem
wir uns kennen, doch schon so oft allein beisammen, tagelang, auf Reisen
wochenlang und fast unaufhörlich, aber ich kann mich nicht erinnern
- wenn es geschehen wäre, könnte ich mich sehr gut erinnern -,
ein großes, zusammenhängendes, mein ganzes Wesen heraushebendes
Gespräch finit ihm geführt zu haben, wie es doch selbstverständlich
sich ergeben müßte, wenn zwei Menschen mit ihrem großen
Umkreis eigentümlicher und bewegter Meinungen und Erfahrungen aneinandergeraten.
Und Monologe Maxens (und vieler anderer) habe ich schon genug gehört,
für die nur der laute und meistens auch der stumme Gegenredner fehlte.
(Liebste, es wird spät, der Brief geht nicht ab, das ist schlecht,
und schlechter noch, dass er nicht auf einmal, sondern in Absätzen
geschrieben ist, nicht eigentlich aus Zeitmangel, sondern aus Unruhe und
Selbstquälerei.) Am erträglichsten bin ich noch in bekannten
Räumen mit 2 oder 3 Bekannten, da bin ich frei, es besteht kein Zwang
zu fortwährender Aufmerksamkeit und Mitarbeit, aber wenn ich Lust
habe, kann ich wann ich will an dem Gemeinsamen mich beteiligen, so lang
oder so kurz ich will, niemand vermißt mich, niemandem werde ichunbehaglich.
Ist noch irgendein fremder Mensch da, der mir ins Blut geht, desto besser,
da kann ich scheinbar von geborgter Kraft ganz lebendig werden. Bin ich
aber in einer fremden Wohnung, unter mehreren fremden Leuten oder solchen,
die ich als fremd fühle, dann liegt mir das ganze Zimmer auf der Brust
und ich kann mich nicht rühren, und dann scheint förmlich mein
Wesen den Leuten ins Blut zu gehn und alles wird trostlos. So war es z.
B. an dem Nachmittag bei Euch, so war es vorgestern abend
beim Onkel von Weltsch, also bei Leuten, die mich unverständlicher
Weise geradezu liebhaben. Ich erinnere mich so genau daran, ich lehnte
dort an einem Tisch, neben mir lehnte die Haustochter - ich kenne in Prag
kein Mädchen, das ich so gut leiden kann -, ich war nicht imstande,
im Anblick dieser guten Freunde auch nur ein vernünftiges Wort herauszubringen.
Ich starrte vor mich hin und sagte hie und da einen Unsinn. Wenn man mich
an den Tisch festgebunden hätte, ich hätte nicht gequälter
und gezierter dastehn können. Davon wäre noch viel zu erzählen
aber es genügt vorläufig.
Darnach könnte man glauben, ich sei für das Alleinsein geboren
als ich dann allein in meinem Zimmer war, war ich zwar verzweifelt über
alles, aber verhältnismäßig auch glücklich und beschloß,
meinen guten Freund Felix wenigstens eine Woche nicht wiederzusehn, nicht
etwa aus Scham, sondern aus Ermürdung - aber ich komme ja auch
mit mir nicht aus, außer wenn ich schreibe. Zwar, verhielte ich mich
zu mir so, wie ich mich zu andern verhalte, müßte ich längst
auseinandergefallen sein, aber nahe daran war ich schon oft.
Nun bedenke, Felice, welche Veränderung durch eine Ehe mit ums vorginge,
was jeder verlieren und jeder gewinnen würde. Ich würde meine
meistens schreckliche Einsamkeit verlieren und Dich gewinnen, die ich über
allen Menschen liebe. Du aber würdest Dein bisheriges Leben verlieren,
in dein Du fast gänzlich zufrieden warst.
Du würdest Berlin verlieren, das Bureau, das Dich freut, die Freundinnen,
die kleinen Vergnügungen, die Aussicht, einen gesunden, lustigen,
guten Mann zu heiraten, schöne, gesunde Kinder zu bekommen, nach denen
Du Dich, wenn Du es nur überlegst, geradezu sehnst. Anstelle dieses
gar nicht abzuschätzenden Verlustes würdest Du einen kranken,
schwachen, ungeselligen, schweigsamen, traurigen, steifen, fast hoffnungslosen
Menschen gewinnen, dessen vielleicht einzige Tugend darin besteht, dass
er Dich liebt. Statt dass Du Dich für wirkliche Kinder opfern
würdest, was Deiner Natur als der eines gesunden Mädchens entsprechen
würde, müßtest Du Dich für diesen Menschen opfern,
der kindlich, aber im schlimmsten Sinne kindlich ist und der vielleicht
im günstigsten Fall buchstabenweise die menschliche Sprache von Dir
lernen würde. Und in jeder Kleinigkeit würdest Du verlieren,
in jeder. Mein Einkommen ist vielleicht nicht größer als das
Deinige, ich habe genau 4588 K jährlich, bin allerdings pensionsberechtigt,
aber das Einkommen ist wie eben in einem dem Staatsdienst ähnlichen
Dienst sehr wenig steigerungsfähig, von den Eltern habe ich nicht
viel zu erwarten, von der Literatur gar nichts. Du müßtest also
viel bescheidener leben als jetzt. Würdest Du das wirklich meinetwegen,
des oben beschriebenen Menschen wegen, tun und aushalten?
Und nun sprich Du, Felice. Überlege alles, was ich gesagt habe in
allen meinen Briefen von Anfang an. Ich glaube meine Angaben über
mich dürften niemals viel geschwankt haben. Übertrieben wird
kaum etwas sein, zu wenig gesagt manches. Über die äußere
Rechnung mußt Du nichts sagen, die ist klar genug, die verbietet
Dir ein "Ja" aufs strengste. Bleibt also nur die innere Rechnung.
Wie steht es mit der? Willst Du mir ausführlich antworten? Oder nicht
ausführlich, wenn Du nicht viel Zeit hast, aber klar, wie es Deinem
doch im Grunde klaren, nur durch mich ein wenig getrübten Wesen entspricht?
Franz
[10.-] 16. VI. 13: Begonnen hat Kafka diesen Brief
spätestens am 10. Juni. Vgl. seine Bemerkung im Brief vom 10. Juni
1913, S. 396: ...vielmehr bereite ich eine Abhandlung... vor, die aber
noch nicht fertig ist."
Nachmittag bei Euch: Vgl. Kafkas Brief an Felice
vom 15. Mai 1913, S. 383, drei Tage nach seinem Berliner Pfingstbesuch.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at