Voriger Eintrag Jahresübersicht | IndexseiteNächster Eintrag

 

An Felice Bauer

[10.-] 16. VI. 13
 


Liebste Felice, gerade habe ich paar Worte mit meiner Schwester gesprochen, die im Bett liegt, und mit dem Fräulein, das bei ihr ist. Meine Schwester ist brav und gut, das Fräulein die ergebenste Person, und doch habe ich die paar Worte in der äußersten Gereiztheit gesprochen und mir verlangt aus dem Zimmer hinauszukommen, in dem sie mich mit Fragen zu halten suchten. Für die Gereiztheit war nicht der geringste Grund auf Seite der Schwester und des Fräuleins, es war auch keine Möglichkeit, die Gereiztheit zu äußern, und so mußte ich in diesem schändlichen Zustand abziehn und in einem Brief an Dich irgendeine Reinigung suchen. Aber auch darin bin ich unsicher, denn ich hatte heute keinen Brief von Dir, und kann ich mich nicht an ein frisches Wort von Dir hängen, bin ich wie im Leeren.

Nun ist also Dein Vater schon wieder da und der Brief noch immer nicht geschrieben, aber Dein letzter Brief ist auch vielleicht der erste seit langer Zeit, in dem Du etwas "offen und ehrlich" hören willst und selbst irgendeine Befangenheit und Schweigsamkeit ablegst.

Du erkennst doch schon gewiß meine eigentümliche Lage. Zwischen mir und Dir steht von allem andern abgesehn der Arzt. Was er sagen wird ist zweifelhaft, bei solchen Entscheidungen entscheidet nicht so sehr medicinische Diagnose, wäre es so, dann stünde es nicht dafür, sie in Anspruch zu nehmen. Ich war wie gesagt nicht eigentlich krank, bin es aber doch. Es ist möglich, dass andere Lebensverhältnisse mich gesund machen könnten, aber es ist unmöglich, diese andern Lebensverhältnisse hervorzurufen. Bei der ärztlichen Entscheidung (die, wie ich schon jetzt sagen kann, nicht unbedingt für mich Entscheidung sein wird) wird nur der Charakter des urbekannten Arztes entscheiden. Mein Hausarzt z. B. würde in seiner stupiden Unverantwortlichkeit nicht das geringste Hindernis sehn, im Gegenteil; ein anderer, besserer Arzt wird vielleicht die Hände über dem Kopf zusammenschlagen.

Nun bedenke, Felice, angesichts dieser Unsicherheit läßt sich schwer das Wort hervorbringen und es muß sich auch sonderbar anhören. Es ist eben zu bald, um es zu sagen. Nachher aber ist es doch auch wieder zu spät, dann ist keine Zeit mehr zur Besprechung solcher Dinge, wie Du sie in Deinem letzten Brief erwähnst. Aber zu langem Zögern ist nicht mehr Zeit, wenigstens fühle ich das so, und deshalb frage ich also: Willst Du unter der obigen, leider nicht zu beseitigenden Voraussetzung überlegen, ob Du meine Frau werden willst? Willst Du das?

An dieser Stelle habe ich vor einigen Tagen aufgehört und habe es seitdem nicht fortgesetzt. Ich verstehe es sehr gut, warum ich das nicht konnte. Es ist im Grunde nämlich eine verbrecherische Frage. die ich an Dich stelle (das erkenne ich wieder an Deinem heutigen Brief), aber in dem Widerstreit der Kräfte siegen die, die diese Frage stellen müssen.

Was Du von Ebenbürtigkeit und solchen Dingen sprichst, ist, wenn dadurch nicht (Dir natürlich unbewußt) anderes verdeckt werden soll, nichts als Phantasie. Ich bin ja nichts, gar nichts. Ich bin "in allem weiter" als Du? Ein wenig Menschen zu beurteilen und in Menschen mich einzufühlen, das verstehe ich, aber ich glaube nicht, jemals mit einem Menschen zusammengekommen zu sein, der auf die Dauer, im Durchschnitt, und zwar hier im Leben, im Menschenverkchr (um was handelt es sich denn sonst?) kümmerlicher wäre als ich. Ich habe kein Gedächtnis, weder für Gelerntes noch für Gelesenes, weder für Erlebtes noch für Gehörtes, weder für Menschen noch für Vorgänge, mir ist, als hätte ich nichts erlebt, als hätte ich nichts gelernt, ich weiß tatsächlich von den meisten Dingen weniger als kleine Schulkinder, und was ich weiß, weiß ich so oberflächlich, dass ich schon der zweiten Frage nicht mehr entsprechen kann. Ich kann nicht denken, in meinem Denken stoße ich immerfort an Grenzen, im Sprung kann ich noch einzelweise manches erfassen, zusammenhängendes, entwicklungsmäßiges Denken ist mir ganz unmöglich. Ich kann auch nicht eigentlich erzählen, ja fast nicht einmal reden; wenn ich erzähle, habe ich meistens ein Gefühl, wie es kleine Kinder haben könnten, die die ersten Gehversuche machen, aber noch nicht aus eigenem Bedürfnis, sondern weil es die erwachsene, tadellos gehende Familie so will. Einem solchen Menschen fühlst Du Dich nicht ebenbürtig, Felice, die Du lustig, lebendig, sicher und gesund bist? Das einzige, was ich habe, sind irgendwelche Kräfte, die sich in einer im normalen Zustand gar nicht erkennbaren Tiefe zur Literatur koncentrieren, denen ich mich aber bei meinen gegenwärtigen beruflichen und körperlichen Verhältnissen gar nicht anzuvertrauen wage, denn allen innern Mahnungen dieser Kräfte stehen zumindest ebensoviel innere Warnungen gegenüber. Dürfte ich mich ihnen anvertrauen, so würden sie mich freilich, das glaube ich bestimmt, mit einemmal aus allem diesem innern Jammer heraustragen.

Nur zur theoretischen Ausführung der Frage der Ebenbürtigkeit, denn praktisch kommt sie, wie gesagt, nicht in Betracht, wenigstens nicht in Deinem Sinne - muß ich noch hiiizufügen, dass eine derartige Übereinstimmung in Bildung, in Kenntnissen, in höheren Bestrebungen und Auffassungen, wie Du sie für eine glückliche Ehe zu fordern scheinst, meiner Meinung nach erstens fast ummöglich, zweitens nebensächlich und drittens nicht einmal gut und wünschenswert ist. Was eine Ehe verlangt, ist menschliche Übereinstimmung, also Übereinstimmung noch tief unter allen Meinungen, also eine Übereinstimmung, die nicht zu überprüfen, sondern nur zu fühlen ist, also eine Notwendigkeit menschlichen Beisammenseins. Dadurch wird aber die Freiheit des einzelnen nicht im geringsten gestört, die wird eben nur gestört durch das nicht notwendige menschliche Beisammensein, aus dein der größte Teil unseres Lebens besteht.

Du sagst, es wäre denkbar, dass ich das Zusainmenleben mit Dir nicht ertragen könnte. Damit rührst Du fast an etwas Richtiges, nur von einer ganz andern Seite, als Du meinst. Ich glaube wirklich, ich bin für den menschlichen Verkehr verloren. Ein fortgesetztes, lebendig sich aufbauendes Gespräch mit einem einzelnen zu führen bin ich gänzlich außerstande, einzelne ausnahmsweise, schrecklich ausnahmsweise Zeiten abgerechnet. Ich war z. B. mit Max in den vielen Jahren, seitdem wir uns kennen, doch schon so oft allein beisammen, tagelang, auf Reisen wochenlang und fast unaufhörlich, aber ich kann mich nicht erinnern - wenn es geschehen wäre, könnte ich mich sehr gut erinnern -, ein großes, zusammenhängendes, mein ganzes Wesen heraushebendes Gespräch finit ihm geführt zu haben, wie es doch selbstverständlich sich ergeben müßte, wenn zwei Menschen mit ihrem großen Umkreis eigentümlicher und bewegter Meinungen und Erfahrungen aneinandergeraten. Und Monologe Maxens (und vieler anderer) habe ich schon genug gehört, für die nur der laute und meistens auch der stumme Gegenredner fehlte.

(Liebste, es wird spät, der Brief geht nicht ab, das ist schlecht, und schlechter noch, dass er nicht auf einmal, sondern in Absätzen geschrieben ist, nicht eigentlich aus Zeitmangel, sondern aus Unruhe und Selbstquälerei.) Am erträglichsten bin ich noch in bekannten Räumen mit 2 oder 3 Bekannten, da bin ich frei, es besteht kein Zwang zu fortwährender Aufmerksamkeit und Mitarbeit, aber wenn ich Lust habe, kann ich wann ich will an dem Gemeinsamen mich beteiligen, so lang oder so kurz ich will, niemand vermißt mich, niemandem werde ichunbehaglich. Ist noch irgendein fremder Mensch da, der mir ins Blut geht, desto besser, da kann ich scheinbar von geborgter Kraft ganz lebendig werden. Bin ich aber in einer fremden Wohnung, unter mehreren fremden Leuten oder solchen, die ich als fremd fühle, dann liegt mir das ganze Zimmer auf der Brust und ich kann mich nicht rühren, und dann scheint förmlich mein Wesen den Leuten ins Blut zu gehn und alles wird trostlos. So war es z. B. an dem Nachmittag bei Euch, so war es vorgestern abend beim Onkel von Weltsch, also bei Leuten, die mich unverständlicher Weise geradezu liebhaben. Ich erinnere mich so genau daran, ich lehnte dort an einem Tisch, neben mir lehnte die Haustochter - ich kenne in Prag kein Mädchen, das ich so gut leiden kann -, ich war nicht imstande, im Anblick dieser guten Freunde auch nur ein vernünftiges Wort herauszubringen. Ich starrte vor mich hin und sagte hie und da einen Unsinn. Wenn man mich an den Tisch festgebunden hätte, ich hätte nicht gequälter und gezierter dastehn können. Davon wäre noch viel zu erzählen aber es genügt vorläufig.

Darnach könnte man glauben, ich sei für das Alleinsein geboren als ich dann allein in meinem Zimmer war, war ich zwar verzweifelt über alles, aber verhältnismäßig auch glücklich und beschloß, meinen guten Freund Felix wenigstens eine Woche nicht wiederzusehn, nicht etwa aus Scham, sondern aus Ermürdung - aber ich komme ja auch mit mir nicht aus, außer wenn ich schreibe. Zwar, verhielte ich mich zu mir so, wie ich mich zu andern verhalte, müßte ich längst auseinandergefallen sein, aber nahe daran war ich schon oft.

Nun bedenke, Felice, welche Veränderung durch eine Ehe mit ums vorginge, was jeder verlieren und jeder gewinnen würde. Ich würde meine meistens schreckliche Einsamkeit verlieren und Dich gewinnen, die ich über allen Menschen liebe. Du aber würdest Dein bisheriges Leben verlieren, in dein Du fast gänzlich zufrieden warst.

Du würdest Berlin verlieren, das Bureau, das Dich freut, die Freundinnen, die kleinen Vergnügungen, die Aussicht, einen gesunden, lustigen, guten Mann zu heiraten, schöne, gesunde Kinder zu bekommen, nach denen Du Dich, wenn Du es nur überlegst, geradezu sehnst. Anstelle dieses gar nicht abzuschätzenden Verlustes würdest Du einen kranken, schwachen, ungeselligen, schweigsamen, traurigen, steifen, fast hoffnungslosen Menschen gewinnen, dessen vielleicht einzige Tugend darin besteht, dass er Dich liebt. Statt dass Du Dich für wirkliche Kinder opfern würdest, was Deiner Natur als der eines gesunden Mädchens entsprechen würde, müßtest Du Dich für diesen Menschen opfern, der kindlich, aber im schlimmsten Sinne kindlich ist und der vielleicht im günstigsten Fall buchstabenweise die menschliche Sprache von Dir lernen würde. Und in jeder Kleinigkeit würdest Du verlieren, in jeder. Mein Einkommen ist vielleicht nicht größer als das Deinige, ich habe genau 4588 K jährlich, bin allerdings pensionsberechtigt, aber das Einkommen ist wie eben in einem dem Staatsdienst ähnlichen Dienst sehr wenig steigerungsfähig, von den Eltern habe ich nicht viel zu erwarten, von der Literatur gar nichts. Du müßtest also viel bescheidener leben als jetzt. Würdest Du das wirklich meinetwegen, des oben beschriebenen Menschen wegen, tun und aushalten?

Und nun sprich Du, Felice. Überlege alles, was ich gesagt habe in allen meinen Briefen von Anfang an. Ich glaube meine Angaben über mich dürften niemals viel geschwankt haben. Übertrieben wird kaum etwas sein, zu wenig gesagt manches. Über die äußere Rechnung mußt Du nichts sagen, die ist klar genug, die verbietet Dir ein "Ja" aufs strengste. Bleibt also nur die innere Rechnung. Wie steht es mit der? Willst Du mir ausführlich antworten? Oder nicht ausführlich, wenn Du nicht viel Zeit hast, aber klar, wie es Deinem doch im Grunde klaren, nur durch mich ein wenig getrübten Wesen entspricht?

Franz




[10.-] 16. VI. 13: Begonnen hat Kafka diesen Brief spätestens am 10. Juni. Vgl. seine Bemerkung im Brief vom 10. Juni 1913, S. 396: ...vielmehr bereite ich eine Abhandlung... vor, die aber noch nicht fertig ist."


Nachmittag bei Euch: Vgl. Kafkas Brief an Felice vom 15. Mai 1913, S. 383, drei Tage nach seinem Berliner Pfingstbesuch.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at