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[An Felice Bauer]
[Prag, 2. Juni 1913; Montag]

Hinter mir sitzt Löwy und liest. Nein, Felice, nicht deshalb habe ich Dir nicht geschrieben, weil ich von ihm in Anspruch genommen war, was könnte mich so in Anspruch nehmen, dass es mir die Gedanken an Dich wegnähme? Aber ich warte auf Deinen Brief. Wie gern wollte ich Dir jetzt schwören, dass wir ruhig und durch nichts zu stören, einander schreiben werden, aber ich kann nicht für mich bürgen. Und nun, Liebste, nimm an - ohne dass es allerdings zweifellos wäre -, dass nicht nur die Ferne mich so macht, sondern dass ich so auch in der Nähe, und zwar dauernd bin, nur auf der einen Seite noch viel verzweifelter und auf der andern noch viel matter. Und indem ich dieses überlege, trage ich auch die Gedanken an den Brief für Deinen Vater immerfort in mir herum.
Liebste Felice, bitte, schreibe mir wieder von Dir wie in früherer Zeit, vom Bureau, von Freundinnen, von der Familie, von Spaziergängen, von Büchern, Du weißt nicht, wie ich das zum Leben brauche.
Findest Du im "Urteil" irgendeinen Sinn, ich meine irgendeinen geraden, zusammenhängenden, verfolgbaren Sinn? Ich finde ihn nicht und kann auch nichts darin erklären. Aber es ist vieles Merkwürdiges daran. Sieh nur die Namen! Es ist zu einer Zeit geschrieben wo ich Dich zwar schon kannte und die Welt durch Dein Dasein an Wert gewachsen war, wo ich Dir aber noch nicht geschrieben hatte. Und nun sieh, Georg hat so viel Buchstaben wie Franz, "Bendemann" besteht aus Bende und Mann, Bende hat so viel Buchstaben wie Kafka und auch die zwei Vokale stehn an gleicher Stelle, "Mann" soll wohl aus Mitleid diesen armen "Bende" für seine Kämpfe stärken. "Frieda" hat so viel Buchstaben wie Felice und auch den gleichen Anfangsbuchstaben, "Friede" und "Glück" liegen auch nah beisammen. "Brandenfeld" hat durch "feld" eine Beziehung zu "Bauer" und den gleichen Anfangsbuchstaben. Und derartiges gibt es noch einiges, das sind natürlich lauter Dinge, die ich erst später herausgefunden habe. Im übrigen ist das Ganze in einer Nacht geschrieben von 11h bis 6 Uhr früh. Als ich mich zum Schreiben niedersetzte, wollte ich nach einem zum Schreien unglücklichen Sonntag (ich hatte mich den ganzen Nachmittag stumm um die Verwandten meines Schwagers herumgedreht, die damals zum erstenmal bei uns waren) einen Krieg beschreiben, ein junger Mann sollte aus seinem Fenster eine Menschenmenge über die Brücke herankommen sehn, dann aber drehte sich mir alles unter den Händen. - Noch etwas Wichtiges: Das letzte Wort des vorletzten Satzes soll "hinabfallen", nicht "hinfallen" sein. Und nun, ist also wieder alles gut?

Franz


Noch nicht geschrieben: Ein Irrtum. Die Erzählung "Das Urteil" ist zwei Tage nach seinem ersten Brief an Felice Bauer entstanden, und zwar in der Nacht vom 22. zum 23. September 1912.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at