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An Felice Bauer

23. V. 13
 


Meine Felice, meine Liebste, nun habe ich Dir auf einen Brief nicht gleich geantwortet. Hast Du das wirklich geglaubt? Ist das überhaupt möglich? Nein, es ist nicht möglich, denn die Freude über einen Brief von Dir ist so groß, dass ich mich nicht zurückhalten kann, sofort zu antworten und wenn es mit mir noch so schlimm steht und es aus Vernunftgründen vielleicht besser wäre nicht zu schreiben. Aber denke nur, dieser Brief, den Du am Sonntag abend eingeworfen hast, kam erst heute Freitag in meine Hände. Ein Poststempel zeigt, dass er in Wien war. Während ich hier mich abquälte, wanderte dieser Brief durch die Ungeschicklichkeit eines Beamten nach Wien und langsam wieder zurück. Und ich rechnete in diesen langen Tagen: Felice antwortet mir auf meinen principiellen Brief nicht, antwortet mir nicht auf die Frage wegen des Briefes an den Vater, schreibt mir Sonntag, Montag, Dienstag nicht, fährt nach Hannover, ohne dass ich nur im geringsten den Zweck dieser Reise erfahre, gibt mir nicht die Adresse in Hannover an, will also während der Reise nichts von mir hören, schreibt mir schließlich von dieser Reise kein Wort - nun und so konnte ich doch auch nicht schreiben, zumal ich eben jenen Brief erst heute bekam, der die schlimmsten Voraussetzungen glücklicher Weise änderte. Es war keine schöne Zeit, immer wieder mußte ich mir sagen, dass Du gegen mich grausam ohne Absicht bist, und Grausamkeit ohne Absicht ist in solcher Ausdehnung doch das Hoffnungsloseste.

Aber so ist es jetzt nicht, Felice, alles muß gut werden, es muß gut werden. Der Brief an Deinen Vater ist noch nicht fertig, d. h. er war schon öfters fertig, aber immer unbrauchbar. Er muß ganz kurz und ganz deutlich sein, das ist nicht leicht. Ich will mich nicht hinter Deinen Vater stecken, Du sollst ja den Brief vorher lesen. Aber geschrieben muß er werden aus folgendem Grunde: Es gibt Hindernisse für mich, die Du beiläufig kennst, die Du aber nicht ernst genug nimmst und die Du selbst dann nicht ernst genug nehmen würdest, wenn Du sie vollständig kennen würdest. Niemand um mich nimmt sie genug ernst oder er tut es mir zuliebe, sie nicht ernst zu nehmen. Es ist das schon so oft Wiederholte: Seit 10 Jahren etwa fühle ich mich in immer zunehmender Weise nicht ganz gesund, das Wohlgefühl des Gesundseins, das Wohlgefühl eines in jeder Hinsicht gehorchenden Körpers, auch ohne ständige Aufmerksamkeit und Sorge arbeitenden Körpers, dieses Wohlgefühl, aus dem die ständige Lustigkeit und vor allem Unbefangenheit der meisten Menschen hervorgeht - dieses Wohlgefühl fehlt mir. Und es fehlt mir in jeder, aber in jeder Lebensäußerung. Und es sitzt der Fehler nicht etwa in irgendeiner besonderen Krankheit, die ich einmal gehabt hätte, im Gegenteil, seit den Kinderkrankheiten war ich derartig ausdrücklich, dass ich deshalb zu Bett gelegen wäre, vielleicht überhaupt nicht krank, ich kann mich wenigstens an eine solche Krankheit gar nicht erinnern. Dieser traurige Zustand ist nun aber da, äußert sich jeden Augenblick fast, in der Ferne scheint er erträglich, bei zeitweiligen Zusammenkünften mit Freunden sieht man über ihn hinweg, in der Familie kommt er durch Todesschweigen nicht zur eigentlichen Geltung, dagegen in der unmittelbarsten Gemeinschaft? So wie mich dieser Zustand hindert, unbefangen zu reden, unbefangen zu essen, unbefangen zu schlafen, hindert er mich an jeder Unbefangenheit. Ich wüßte nichts, wovor ich mich nicht in dieser Weise fürchtete, und das mit erfahrungsmäßiger Begründung. Sag, kann ich im übervollen Bewußtsein dessen, ohne weiters, dein liebsten Menschen, den ich habe, etwas aufbürden wollen, wovor ich selbst gleichgültige Menschen zu verschonen suche, selbst wenn es sich um zeitlich und innerlich beschränktes Zusammensein handelt, hier aber wäre alles schrankenlos. Kann ich Dich geradewegs um die Bewilligung einer Aussprache bitten, die mich schon brennt weil ich sie allzulange verschweige? Kann ich es? Und darf ich mich damit begnügen, nur Dich zu bitten wenn ich sehe, wie Du verwandelt bist, wenn Du mit mir bist (ohne dass diese Verwandlung zu meinen Gunsten zu deuten wäre, eher zu meiner Schande), wie Dich, dieses sonst selbstsichere, raschdenkende, stolze Mädchen eine matte Gleichgültigkeit ergreift und wie man in dieser Verfassung, wenn man nur einen Hauch von Verantwortlichkeit in sich fühlt, keinesfalls die Entscheidung über sein Schicksal, wie erst die über Deines von Dir verlangen oder annehmen kann? Wie hat mich dieser Zwiespalt niedergedrückt dort im Grunewald und Dich übrigens auch: alles sagen zu dürfen und nicht sagen zu dürfen. Aus dem allen folgt: Ich kann die Verantwortung nicht tragen, denn ich sehe sie für zu groß an, Du aber kannst sie nicht tragen, denn Du siehst sie kaum. Natürlich gibt es Wunder, dass Du mir gut bist, ist z. B. eines, und warum sollte in der Reihenfolge der Wunder, die eine Gemeinschaft mit Dir zur Folge hätte, nicht auch meine Heilung sein. Diese Hoffnung ist nicht so klein, als dass sie die Verantwortung nicht verkleinern würde, aber die Verantwortung ist in ihrer Gänze zu groß und bleibt es.

Darum will ich Deinem Vater jetzt schreiben. Von meinen Eltern oder meinen Freunden bekäme ich keinen genügenden Rat. Sie denken zu wenig an Dich und würden mir nur das raten was ich ja offen genug will, alle Verantwortung zu tragen, vielmehr sie würden es mir nicht raten, sie raten es mir (wenn ich es auch nicht sage, in meinen Augen steht es, was ich hören will), und allen voran in ihrer nur auf mich und den Augenblick eingeschränkten Kurzsichtigkeit meine Mutter. Sie weiß nichts, und wenn sie es weiß, begreift sie es aus Mutterstolz und Mutterliebe nicht, da ist kein Rat zu holen. Den gibt es nur bei Deinem Vater, in dieser Hinsicht war mein Besuch sehr nützlich, denn seinen Rat wird nicht das geringste gute Vorurteil zu meinen Gunsten beirren. Ich werde ihm das sagen, was ich Dir jetzt sage, nur deutlicher und werde ihn - was sich ein wenig komisch anhört und auch ein klägliches Aushilfsmittel in der großen Not ist - im Falle er mich nicht ganz verwirft, um Nennung eines Arztes bitten, dem er vertraut und von dem ich mich untersuchen lassen würde.

Franz


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at