Voriger Eintrag | Jahresübersicht | Indexseite | Nächster Eintrag |
An Felice Bauer
Es ist schon spät, ich gehe schlafen, nur Dich grüßen und
paar Federstriche für Dich schreiben will ich, Liebste, unbegreiflich
Geliebte. Ich habe gefunden, dass ich seit Jahren zu wenig geschlafen
habe, und diesem ewigen Reißen in meinem Kopf werde ich nur durch
Schlafen beikommen oder gar nicht. Ich habe einen langen Spaziergang ganz
allein mit Deinem gestrigen Brief gemacht, ich hätte mit zweierlei
Leuten gehen können, aber ich wollte allein sein, früher wollte
ich aus Koketterie, aus Unsinn, aus Faulheit allein sein und bin als leidlich
frischer und gesunder junge gelangweilt allein herumgezogen, heute bin
ich aus Notwendigkeit allein und zum nicht geringen Teil aus Sehnsucht
nach Dir. Ich bin weit vor die Stadt gegangen, habe an einem Abhang in
der Sonne ein wenig geduselt, die Moldau zweimal übersetzt, Deinen
Brief mehrmals gelesen, Steine von der Höhe hinuntergeworfen, weite
Ausblicke gehabt, wie sie nur im ersten Frühjahr zu sehen sind, Liebespaare
gestört (er lag im Gras, sie bewegte sich vor ihm auf und ab) - alles
war nichts, das einzig Lebendige an mir war Dein Brief in meiner Tasche.
Wenn Du nur gesund bist, Liebste, ich habe solche Sorgen. Diese bitte um
Dispens vom Briefeschreiben hat mich auf den Verdacht gebracht, dass
Du nicht ins Bureau gehst. Sollte das wahr sein? Liebste, bleib mir gesund,
ich will nie mehr klagen, wenn Du gesund bleibst. Und geh nicht so spät
schlafen, Du hast gut ausgesehn, hattest rote Wangen, warst frisch, und
doch konnte plan es Dir an sehn, dass Du zu wenig schläfst. Liebste,
geben wir uns das Versprechen, bis Pfingsten immer um 9 schlafen zu gehe.
Jetzt ist zwar schon ½10, immerhin es ist noch nicht zu spät
und vom Brief bin ich gestärkt. Also gute Nacht, Liebste, sagen wir
es immer um 9 Uhr einer dem andern.
Franz
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at