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An Felice Bauer

21. III. 13
 


Du schreibst mir nicht? Im Bureau war nichts (bei uns ist kein Bureaufeiertag, darum schickte ich auch meinen Brief in Dein Bureau), aber zuhause auch nichts. Felice! Und dabei ist es noch gar nicht sicher, ob ich fahre; erst morgen vormittag entscheidet es sich, die Müllerversammlung droht noch immer. Und wo ich Dich treffen kann, weiß ich nun auch nicht, wenn nicht morgen ein Brief kommt. Wenn ich fahre, so werde ich höchstwahrscheinlich im Askanischen Hof, Königgrätzerstraße wohnen. Gestern habe ich erfahren, dass Pick zu gleicher Zeit auch nach Berlin fährt. Es hat keine Bedeutung für meinen Reisezweck, es wird angenehm sein, mit P. zu fahren, und in Berlin soll er mich nicht stören, trotzdem und weil er die halbe Berliner Literatur kennt und besucht. Aber wann sehe ich Dich, Dich, Felice, und wo? Wird es Sonntag vormittag möglich sein? Ich muß mich aber ordentlich ausschlafen, ehe ich vor Dich trete. Wie wenig habe ich wieder diese Woche geschlafen, vieles von meiner Neurasthenie und viele meiner weißen Haare stammen von ungenügendem Schlaf. Wenn ich nur gut ausgeschlafen wäre, wenn ich mit Dir zusammenkomme! dass mir nur die Knie nicht schlottern! Wenn ich z. B. in dem Zustand auftreten würde, in dem ich jetzt bin. - Aber es ist höchst dumm, sich durch solche Selbstgespräche das wenige von Fassung zu nehmen, das man vielleicht doch noch aufbringen könnte. Also, Felice, die Briefschreiber nehmen vorläufig voneinander Abschied, und die zwei, die einander vor einem ? ½ Jahr gesehen haben, werden einander wiedersehn. Dulde den wirklichen Menschen, so wie Du den Briefschreiber geduldet hast, nicht mehr! (Das ratet Dir einer, der Dich sehr lieb hat.)

Franz


Du bekommst natürlich, ob ich in Berlin bin oder nicht, sonntags einen Brief von mir, oder vielmehr Deine Mutter bekommt ihn. Jetzt, nachdem ich das geschrieben habe, scheint es mir ein häßlicher Betrug, aber die Vorstellung des wirklichen Menschen beginnt eben.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at