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An Felice Bauer
Ist man schon ruhiger? Zieht das Leid ab? Nach dem heutigen Brief könnte
man es glauben und recht wäre es mir schon, aber mir fehlt das Zutrauen.
Lesen kannst Du nicht? Das ist kein Wunder. Wann hättest Du denn Zeit
dazu? Aber wie kommst Du, Felice, Liebste, wie kommst Du zu Uriel
Acosta? Ich kenne das Stück auch nicht und ich dächte, ich
könnte es auch nicht lesen, trotzdem bei mir wahr ist, was Du zum
Spaß von Deinem Gehirn sagst. Aber vielleicht maß so ein Gehirn
eintrocknen und hart werden, damit man einmal zu seiner Zeit einen Funken
daraus schlagen kann. Das wollte ich schreiben, als meine Schwester, ich
saß allein im Wohnzimmer, läutete, sie war aus dem Kinematographentheater
nachhause gekommen und ich maßte ihr öffnen gehn. Nun war ich
gestört und ließ den Brief. Die Schwester erzählte von
der Vorstellung oder vielmehr ich fragte sie aus, denn, wenn ich auch selbst
nur sehr selten ins Kinematographentheater gehe, so weiß ich doch
meistens fast alle Wochenprogramme aller Kinematographen auswendig. Meine
Zerstreutheit, mein Vergnügungsbedürfnis sättigt sich an
den Plakaten von meinem gewöhnlichen innerlichsten Unbehagen, von
diesem Gefühl des ewig Provisorischen ruhe ich mich vor den Plakaten
aus, immer wenn ich von den Sommerfrischen, die ja schließlich doch
unbefriedigend ausgegangen waren, in die Stadt zurückkam, hatte ich
eine Gier nach den Plakaten und von der Elektrischen, mit der ich nachhause
fuhr, las ich im Fluge, bruchstückweise, angestrengt die Plakate ab,
an denen wir vorüberfuhren. - Manchmal, ich weiß nicht, welches
der Grund ist, drängt sich mir besonders stark alles auf, was ich
Dir zu sagen habe, wie eine Volksmenge, die gleichzeitig in eine enge Tür
hineinkommen will. Und ich habe Dir gar nichts gesagt und weniger als nichts,
denn, was ich in der letzten Zeit geschrieben habe, war falsch, nicht bis
zum Grund natürlich, denn im Grunde ist alles richtig, aber wer kann
durch diese Verwirrung und Falschheit an der Oberfläche hindurchsehn?
Kannst Du es, Liebste? Nein, gewiß nicht. Aber lassen wir es jetzt,
es ist schon spät. Die Schwester hat mich aufgehalten. "La broyeuse
des Coeurs" wurde gespielt, die Herzensbrecherin. Und nun habe ich
ein wissenschaftliches Buch allzulange gelesen. Wie wäre es, Liebste,
wenn ich Dir statt Briefe - Tagebuchblätter schikken würde? Ich
entbehre es, dass ich kein Tagebuch führe,
so wenig und so nichtiges auch geschieht und so nichtig ich alles auch
hinnehme. Aber ein Tagebuch, das Du nicht kennen würdest, wäre
keines für mich. Und die Veränderungen und Auslassungen, die
ein für Dich bestimmtes Tagebuch haben müßte, wären
für mich gewiß nur heilsam und erzieherisch. Bist Du einverstanden?
Der Unterschied gegenüber den Briefen wird der sein, dass die
Tagebuchblätter vielleicht manchmal inhaltsreicher, gewiß aber
immer noch langweiliger und noch roher sein werden, als es die Briefe sind.
Aber fürchte Dich nicht allzusehr, die Liebe zu Dir wird ihnen nicht
fehlen. Was Du lesen sollst? Ich weiß ja nicht, was Du kennst. Das
oft erbetene Bücherverzeichnis habe ich auch noch nicht bekommen.
Blindlings sage ich: Lies Werthers Leiden! An Deinen Vater habe ich sonderbarer
Weise in der letzten Zeit wirklich oft gedacht und oft wollte ich auch
schon fragen, ob er [Stoeßls] "Morgenrot" schon ausgelesen
hat. Sieh Felice, Du denkst nicht genug an mich, gestern habe ich erfahren,
dass letzthin im Berliner Tageblatt eine Besprechung der "Höhe
d. Gefühls" von Stoessl stand. Und Du hast sie mir nicht geschickt.
Ich lege zwei Zeitungsabschnitte bei, die gerade heute erschienen sind
und die ich gerade zufällig bei der Hand habe. Die Novelle
ist zwar für Oskar [Baum] ebensowenig charakteristisch wie der Aufsatz
für Felix [Weltsch], sie können beide viel Besseres, über
das Bessere Oskars wirst Du gewiß noch staunen, während das
Bessere des Felix Dir unzugänglich ist. (Mir nicht weniger.).
Sonntag in Deiner Not hast Du auch noch gekocht und so Appetitliches. Ich
bedauerte heute vormittag nach meinen Principien nichts essen zu dürfen,
solche Lust hatte mir Deine Aufzählung gemacht. Es ist ja freilich
nur theoretische Lust, wie ich überhaupt gerne Menschen essen sehe.
Adieu, Felice, und noch einen besondern Dank für den heutigen langen
Brief.
Franz
Uriel Acosta: Tragödie von Karl Gutzkow.
kein Tagebuch: In Kafkas Tagebüchern finden
sich zwischen dem 28. Februar und 2. Mai 1913 keine Eintragungen.
Die Novelle: Die Novelle "Die Fremde"
von Oskar Baum erschien am 13. März 1913 in der Bohemia, ein
Aufsatz von Felix Weltsch über Henri Bergson am selben Tage im Prager
Tagblatt.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at