Voriger Eintrag Jahresübersicht | IndexseiteNächster Eintrag

 

An Felice Bauer

vom 5. zum 6. III. 13
 


Zehn Uhr vorüber, Liebste, und ich bin genau so müde wie Du vorgestern. Ich bin in mein kaltes Zimmer herübergegangen, im warmen (pfui, jetzt höre ich, wie der Vater nebenan von der Fabrik spricht) nebenan war ich schon ganz matt. Du mußt wissen, dass ich von heute ab meine Lebensweise für einige Zeit ändere; wenn es so wie bisher unerträglich war, vielleicht geht es anders; wenn man auf der linken Seite nicht schlafen kann, dreht man sich (oft bereut man es dann freilich und des Wälzens ist dann kein Ende) auf die rechte Seite und ein Leben wie im Bett führe ich ja. (Nebenan wird noch immer von der Fabrik gesprochene mich überlauft es, ich scheine wirklich den richtigen Augenblick zum Weggehn abgepaßt zu haben.) Die Änderung der Lebensweise besteht darin, dass ich An dieser Stelle unterbrach ich das Schreiben, das Nebenzimmer war nun frei geworden, ich sagte noch den Eltern "Gute Nacht", der Vater stand gerade auf dem Kanapee und zog die Wanduhr auf, ich ging dann also ins Wohnzimmer, konnte mich aber nicht entschließen weiterzuschreiben, nahm das Buch von Max und Felix [Anschauung und Begriff] und las das Einleitungskapitel wieder einmal, das in manchen Stellen meisterhaft geschrieben ist, wie von einer dritten, fremden, sehr bedeutenden Person. Ich hatte den Brief liegen lassen, weil es sich mir plötzlich gar so aufdrängte, dass ich immerfort und immerfort nur von mir schreibe und am Ende gar immerfort das gleiche, ohne aufzuhören und dass es widerlich ist, wie ich mich da immer wieder vor Dir ausbreite, ohne zu wissen, ob Du dabei nicht innerlich vor Abscheu, Ungeduld oder Langweile zitterst. Wenn ich das sage, Liebste, so zweifle ich deshalb an Dir noch nicht im geringsten, so dürfen noch Liebende miteinander reden, das steht auch in dem Prolog drin, den Du mir heute geschenkt hast und der mir viel Vergnügen gemacht hat, trotzdem er nicht vollständig und hie und da etwas übermäßig flüchtig ist. Außerdem Liebste, verstehe mich und sei nicht böse, mache ich mir solche Vorwürfe nur wegen der Briefe, wären wir beisammen und säßest Du auf dem Sessel nebenan (ich rücke ihn gerade mit der linken Hand ein wenig näher), ich würde an solche Möglichkeiten gar nicht denken und selbst wenn ich, was sehr wahrscheinlich wäre, noch viel schlimmere Dinge über mich zu sagen hätte, als es jene sind, die ich schreibe. (Eine sehr kleine Verlockung für künftige Zusammenkünfte, nicht wahr, Felice?) Ja auf diesem Sessel solltest Du, von der mir morgen vielleicht ein schlimmer Brief droht, sitzen, der Tisch sollte weggeschoben werden und wir sollten die Hände zusammengeben. Über dieser Erscheinung vergesse ich ganz an meinen Auftrag für Budapest. Er ist natürlich vom

schon besorgt.

Franz


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at