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An Felice Bauer

vom 4, zum 5.III.I3
 


Du mußt viel ertragen, Liebste, in der letzten Zeit und Du erträgst es in einer Weise, die ich einesteils nicht begreifen kann, andernteils aber blind bei Dir voraussetze. Ich sehe Dich hinter Deinen Briefen, ob Du in ihnen klagst oder müde bist oder gar weinst, so stark und lebendig, dass ich mich vor Scham über mich und vor Trauer über diese Gegenüberstellung - hier ich, dort Du -verkriechen möchte. Ich ruhe eben nicht in mir, ich bin nicht immer " etwas< und wenn ich einmal "etwas u war, bezahle ich es mit dem "Nichtsein" von Monaten. Darunter leidet natürlich, wenn ich mich nicht rechtzeitig besinne, auch meine Menschenbeurteilung und meine Beurteilung der Welt überhaupt; ein großer Teil des für mich trostlosen Aussehns der Welt ist durch dieses schiefe Urteil veranlaßt, das sich durch Überlegung zwar mechanisch geradrichten läßt, aber doch nur für einen nutzlosen Augenblick. Um es Dir an einem beliebigen Beispiel zu zeigen: Im Vorraum des Kinematographentheaters, in dem ich heute abend mit Max und seiner Frau und Weltsch gewesen bin (das erinnert mich daran, dass schon bald 2 Uhr ist), hängt eine Anzahl von Photographien aus dem Film "Der Andere". Du hast gewiß von ihm gelesen, Bassermann spielt darin, er wird nächste Woche auch hier gezeigt werden. Auf einem Plakat, wo B. allein im Lehnstuhl abgebildet war, hat er mich wieder ergriffen, wie damals in Berlin und wen ich nur gerade fassen konnte, Max oder seine Frau oder Weltsch, den zog ich zum allgemeinen Überdruß immer wieder vor dieses Plakat. Vor den Photographien schwächte sich schon meine Freude ab, es war doch zu sehn, dass es ein elendes Stück war, in dem er spielte, die aufgenommenen Situationen waren doch alte Filmerfindungen und schließlich sind Augenblicksaufnahmen eines springenden Pferdes fast immer schön, während Augenblicksaufnahmen einer verbrecherischen menschlichen Grimasse, selbst wenn es die Grimasse Bassermanns ist, leicht nichts sagend sein können. B. hat sich also, sagte ich mir, wenigstens in diesem Stück zu etwas hergegeben, was seiner nicht würdig ist. Aber er hat das Stück doch durchlebt, die Erregung der Handlung vom Anfang bis zum Ende in seinem Herzen getragen und was ein solcher Mensch erlebt hat, ist bedingungslos liebenswert. Darin also urteilte ich noch richtig, wenn auch schon eigentlich ein Stück über mich hinaus. Als ich aber vor einer Weile unten auf das Öffnen des Haustores wartete und in der Nacht herumsah, bemitleidete ich in der Erinnerung an jene Photographien den B., als wäre er der un glücklichste Mensch. Der Selbstgenuß des Spieles ist vorüber, stellte ich mir vor, der Film ist fertig, B. selbst ist von jedem Einfluß auf ihn aus geschlossen, er muß nicht einmal einsehn, dass er sich hat mißbrauchen lassen und doch kann ihm in der Betrachtung des Films die äußerste Nutzlosigkeit des Aufwandes aller seiner großen Kräfte be wußt werden und - ich übertreibe mein Mitleidgefühl nicht - er wird älter, schwach, in seinem Lehnstuhl zur Seite geschoben und versinkt irgendwo in der grauen Zeit. Wie falsch! Hier steckt eben der Fehler meiner Beurteilung. Auch nach Fertigstellung des Films geht Bassermann als Bassermann und als keiner sonst nachhause.

Wenn er sich einmal aufheben wird, wird er sich eben ganz auf heben und nicht mehr dasein, aber nicht wie ich es tue und jedem es andichten möchte, mich immerfort umfliegen wie ein Vogel, der durch irgendeinen Fluch von seinem Neste abgehalten, dieses gänz lich leere Nest immerfort umfliegt und niemals aus den Augen läßt. Gute Nacht, Liebste. Darf ich Dich küssen, darf ich den wirklichen Körper umarmen?

Franz




Der Andere: Die Verfilmung des gleichnamigen Schauspiels von Paul Lindau mit dem zum ersten Mal als Filmschauspieler erscheinenden Albert Bassermann in der Hauptrolle.- Das Prager Tagblatt hatte am 30.Januar 1913 Bassermanns Artikel "Kinodarsteller und Bühnenkünstlern abgedruckt, und zwar auf derselben Seite auf der Otto Picks erste Rezension von Kafkas Betrachtung erschien.


Berlin: Kafka hatte im Dezember 1910 in Berlin eine Hamletaufführung mit Albert Bassermann in der Titelrolle gesehen. Vgl. Karte an Max Brod vom 9. XII 1910, Briefe, S. 84.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at