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An Felice Bauer
Du mußt viel ertragen, Liebste, in der letzten Zeit und Du erträgst
es in einer Weise, die ich einesteils nicht begreifen kann, andernteils
aber blind bei Dir voraussetze. Ich sehe Dich hinter Deinen Briefen, ob
Du in ihnen klagst oder müde bist oder gar weinst, so stark und lebendig,
dass ich mich vor Scham über mich und vor Trauer über diese
Gegenüberstellung - hier ich, dort Du -verkriechen möchte. Ich
ruhe eben nicht in mir, ich bin nicht immer " etwas< und wenn ich
einmal "etwas u war, bezahle ich es mit dem "Nichtsein"
von Monaten. Darunter leidet natürlich, wenn ich mich nicht rechtzeitig
besinne, auch meine Menschenbeurteilung und meine Beurteilung der Welt
überhaupt; ein großer Teil des für mich trostlosen Aussehns
der Welt ist durch dieses schiefe Urteil veranlaßt, das sich durch
Überlegung zwar mechanisch geradrichten läßt, aber doch
nur für einen nutzlosen Augenblick. Um es Dir an einem beliebigen
Beispiel zu zeigen: Im Vorraum des Kinematographentheaters, in dem ich
heute abend mit Max und seiner Frau und Weltsch gewesen bin (das erinnert
mich daran, dass schon bald 2 Uhr ist), hängt eine Anzahl von
Photographien aus dem Film "Der Andere".
Du hast gewiß von ihm gelesen, Bassermann spielt darin, er wird nächste
Woche auch hier gezeigt werden. Auf einem Plakat, wo B. allein im Lehnstuhl
abgebildet war, hat er mich wieder ergriffen, wie damals in Berlin
und wen ich nur gerade fassen konnte, Max oder seine Frau oder Weltsch,
den zog ich zum allgemeinen Überdruß immer wieder vor dieses
Plakat. Vor den Photographien schwächte sich schon meine Freude ab,
es war doch zu sehn, dass es ein elendes Stück war, in dem er
spielte, die aufgenommenen Situationen waren doch alte Filmerfindungen
und schließlich sind Augenblicksaufnahmen eines springenden Pferdes
fast immer schön, während Augenblicksaufnahmen einer verbrecherischen
menschlichen Grimasse, selbst wenn es die Grimasse Bassermanns ist, leicht
nichts sagend sein können. B. hat sich also, sagte ich mir, wenigstens
in diesem Stück zu etwas hergegeben, was seiner nicht würdig
ist. Aber er hat das Stück doch durchlebt, die Erregung der Handlung
vom Anfang bis zum Ende in seinem Herzen getragen und was ein solcher
Mensch erlebt hat, ist bedingungslos liebenswert. Darin also urteilte ich
noch richtig, wenn auch schon eigentlich ein Stück über mich
hinaus. Als ich aber vor einer Weile unten auf das Öffnen des Haustores
wartete und in der Nacht herumsah, bemitleidete ich in der Erinnerung an
jene Photographien den B., als wäre er der un glücklichste Mensch.
Der Selbstgenuß des Spieles ist vorüber, stellte ich mir vor,
der Film ist fertig, B. selbst ist von jedem Einfluß auf ihn aus
geschlossen, er muß nicht einmal einsehn, dass er sich hat
mißbrauchen lassen und doch kann ihm in der Betrachtung des Films
die äußerste Nutzlosigkeit des Aufwandes aller seiner großen
Kräfte be wußt werden und - ich übertreibe mein Mitleidgefühl
nicht - er wird älter, schwach, in seinem Lehnstuhl zur Seite geschoben
und versinkt irgendwo in der grauen Zeit. Wie falsch! Hier steckt eben
der Fehler meiner Beurteilung. Auch nach Fertigstellung des Films geht
Bassermann als Bassermann und als keiner sonst nachhause.
Wenn er sich einmal aufheben wird, wird er sich eben ganz auf heben und
nicht mehr dasein, aber nicht wie ich es tue und jedem es andichten möchte,
mich immerfort umfliegen wie ein Vogel, der durch irgendeinen Fluch von
seinem Neste abgehalten, dieses gänz lich leere Nest immerfort umfliegt
und niemals aus den Augen läßt. Gute Nacht, Liebste. Darf ich
Dich küssen, darf ich den wirklichen Körper umarmen?
Franz
Der Andere: Die Verfilmung des gleichnamigen Schauspiels
von Paul Lindau mit dem zum ersten Mal als Filmschauspieler erscheinenden
Albert Bassermann in der Hauptrolle.- Das Prager Tagblatt hatte
am 30.Januar 1913 Bassermanns Artikel "Kinodarsteller und Bühnenkünstlern
abgedruckt, und zwar auf derselben Seite auf der Otto Picks erste Rezension
von Kafkas Betrachtung erschien.
Berlin: Kafka hatte im Dezember 1910 in Berlin
eine Hamletaufführung mit Albert Bassermann in der Titelrolle gesehen.
Vgl. Karte an Max Brod vom 9. XII 1910, Briefe, S. 84.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at