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An Felice Bauer

vom 26. zum 27. II. 13
 


Ist die Sorge wirklich schon vorüber? Nach dem Morgenbrief scheint es so, beherrschst Du Dich aber nicht bloß mir gegenüber? Das Telegramm drehte ich ein Weilchen lang uneröffnet in der Hand. Was konnte darin stehn? So sehr ich weiß, wie gut Du bist, und so sehr ich diese Güte ausnutze (meine ganze jetzige Existenz ist hat keinen andern Sinn und Zeitvertreib) - dass Du mir mit dein Telegramm jede mögliche Sorge nehmen wolltest, das glaubte ich gar nicht in Betracht ziehen zu müssen. Einen Augenblick dachte ich, es stünde in dem Telegramm: "Lauf zum Bahnhof. Ich komme in einer Viertelstunde an." Ich gebe zu, ein solches Telegramm hätte mich gräßlich erschreckt. Ich hätte sogar (einen Augenblick lang machte ich es durch) nichts anderes als Schrecken gefühlt, wie wenn einer aus einer langen Nacht plötzlich herausgerissen wird. Nun, meine Lauheit hätte es wohl aufgestachelt, diese widerliche Lauheit, die mir aus der ganzen Wohnung, ja aus der ganzen Stadt ein einziges Bett macht. Nun, es ist nichts Derartiges in dem Telegramm gestanden, ich bin allein wie früher, nur manchmal schaut mir aus dem Briefpapier, das ich beschreibe, mein Gesicht förmlich entgegen, dass ich am liebsten die Feder weglegen möchte, um mich nicht immerfort an Dich zu hängen und Dich, Du Gerade, herunterzubeugen, sondern mich der Strömung zu überlassen, die, wie ich fühle, sich langsam unter mir wälzt.

Mein zweiter Gedanke über dem Telegramm war allerdings wieder ein ganz entgegengesetzter. "Da bekomme ich also wahrscheinlich morgen keinen Brief", und diese Furcht bin ich noch nicht ganz los. Mißverstehst Du Liebste nicht doch ein wenig, was ich über Deine Schwester sagte? Charakteristisch scheint sie mir sogar sehr, nur ihre Liebe zum Kind ist ein wenig einförmig und läßt eine schlechte Erzieherin des Kindes ahnen. Nicht erklären konnte ich mir übrigens, warum in dem Brief, den doch vom vorigen ein langer Zwischenraum trennte, der Mann, Dein Schwager, gar nicht erwähnt ist.

Das war, Liebste heute schon der zweite Brief, der abgebrochen wurde. Vergiß die Fortsetzungen nicht! Einer brach bei einem offenbar überraschenden Ereignis ab, das in der 3tten Klasse auf Dein Zeichnen besondern Einfluß hatte, und dieser Brief brach in Schlesien ab, als Dein Vater der Schwester die Schulaufgaben machte.

Gern wüßte ich auch, Liebste, wie Du den Genuß beurteilst und erklärst, den mir z. B. letzthin jener Buchhändlerssohn machte. Mit jeder Antwort auf eine solche Frage fühle ich mich tiefer in Dich eindringen, erhalte eine neue Erlaubnis in Dir zu leben und vertausche für einen Augenblick ein Scheinleben mit einer heißen Wirklichkeit.

Franz


Letzte Änderung: 10.6.2016werner.haas@univie.ac.at