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An Felice Bauer
Ist die Sorge wirklich schon vorüber? Nach dem Morgenbrief scheint
es so, beherrschst Du Dich aber nicht bloß mir gegenüber? Das
Telegramm drehte ich ein Weilchen lang uneröffnet in der Hand. Was
konnte darin stehn? So sehr ich weiß, wie gut Du bist, und so sehr
ich diese Güte ausnutze (meine ganze jetzige Existenz ist hat keinen
andern Sinn und Zeitvertreib) - dass Du mir mit dein Telegramm jede
mögliche Sorge nehmen wolltest, das glaubte ich gar nicht in Betracht
ziehen zu müssen. Einen Augenblick dachte ich, es stünde in dem
Telegramm: "Lauf zum Bahnhof. Ich komme in einer Viertelstunde an."
Ich gebe zu, ein solches Telegramm hätte mich gräßlich
erschreckt. Ich hätte sogar (einen Augenblick lang machte ich es durch)
nichts anderes als Schrecken gefühlt, wie wenn einer aus einer langen
Nacht plötzlich herausgerissen wird. Nun, meine Lauheit hätte
es wohl aufgestachelt, diese widerliche Lauheit, die mir aus der ganzen
Wohnung, ja aus der ganzen Stadt ein einziges Bett macht. Nun, es ist nichts
Derartiges in dem Telegramm gestanden, ich bin allein wie früher,
nur manchmal schaut mir aus dem Briefpapier, das ich beschreibe, mein Gesicht
förmlich entgegen, dass ich am liebsten die Feder weglegen möchte,
um mich nicht immerfort an Dich zu hängen und Dich, Du Gerade, herunterzubeugen,
sondern mich der Strömung zu überlassen, die, wie ich fühle,
sich langsam unter mir wälzt.
Mein zweiter Gedanke über dem Telegramm war allerdings wieder ein
ganz entgegengesetzter. "Da bekomme ich also wahrscheinlich morgen
keinen Brief", und diese Furcht bin ich noch nicht ganz los. Mißverstehst
Du Liebste nicht doch ein wenig, was ich über Deine Schwester sagte?
Charakteristisch scheint sie mir sogar sehr, nur ihre Liebe zum Kind ist
ein wenig einförmig und läßt eine schlechte Erzieherin
des Kindes ahnen. Nicht erklären konnte ich mir übrigens, warum
in dem Brief, den doch vom vorigen ein langer Zwischenraum trennte, der
Mann, Dein Schwager, gar nicht erwähnt ist.
Das war, Liebste heute schon der zweite Brief, der abgebrochen wurde. Vergiß
die Fortsetzungen nicht! Einer brach bei einem offenbar überraschenden
Ereignis ab, das in der 3tten Klasse auf Dein Zeichnen besondern Einfluß
hatte, und dieser Brief brach in Schlesien ab, als Dein Vater der Schwester
die Schulaufgaben machte.
Gern wüßte ich auch, Liebste, wie Du den Genuß
beurteilst und erklärst, den mir z. B. letzthin jener Buchhändlerssohn
machte. Mit jeder Antwort auf eine solche Frage fühle ich mich tiefer
in Dich eindringen, erhalte eine neue Erlaubnis in Dir zu leben und vertausche
für einen Augenblick ein Scheinleben mit einer heißen Wirklichkeit.
Franz
Letzte Änderung: 10.6.2016 werner.haas@univie.ac.at