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An Felice Bauer

vom 25. zum 26. II. 13
 


Nun bin ich wirklich hilflos, Liebste. Ich sehe Dich im Unglück und weiß nicht, was geschieht; Du weinst wieder, ich kann kein Wort dazu sagen; Du sagst, Du brauchst Rat, und ich kann Dir keinen geben. Es paßt wahrhaftig zu den Fortschritten, die das Unglück um mich in der letzten Zeit gemacht hat, dass nun auch Du in ein mir unbekanntes Unglück hineingezogen wirst. Liebste, ich wollte wirklich mit Dir fort von hier. Wozu es dulden, dass man von irgendeinem Himmel auf diese schwarze, stachelige Erde geworfen worden ist? Schon als Kind bin ich immer in großer Bewunderung vor einem schlechten Buntdruck in der Auslage eines Bildergeschäftes gestanden, auf dem der Selbstmord eines Liebespaares dargestellt war. Es war eine Winternacht und der Mond nur für diesen letzten Augenblick zwischen großen Wolken sichtbar. Die beiden waren am Ende eines kleinen hölzernen Landungssteges und machten gerade den entscheidenden Schritt. Gleichzeitig strebte der Fuß des Mädchens und des Mannes in die Tiefe und man fühlte aufatmend, wie beide schon von der Schwerkraft ergriffen waren. Es ist mir nur noch erinnerlich, dass das Mädchen um den bloßen Kopf einen dünnen, hellgrünen Schleier gewunden hatte, der lose flatterte, während der dunkle Mantel des Mannes vom Wind gestrafft wurde. Sie hielten einander umfaßt und man konnte nicht sagen, sie zog oder er trieb, so gleichmäßig und notwendig ging es vorwärts und man fühlte vielleicht undeutlich schon damals, wenn man es auch erst später erkannte, dass es für Liebe vielleicht keinen andern Ausweg gibt, als den, der da dargestellt wurde. Aber damals war ich noch ein Kind und das Bild, das gewöhnlich neben jenem hing und ein Wildschwein zeigte, das durch einen riesigen Sprung aus dem Waldesdunkel ein Jägerfrühstück in einer Waldlichtung störte, dass die Jäger sich hinter Bäume versteckten und die Teller und Speisen in die Luft flogen, hat mich gewiß noch viel besser unterhalten.

Es bleibt mir nichts übrig, Liebste, als zu warten, bis Du Dich wieder fassen kannst. Ist Dein Vater wieder auf Reisen? Mit dem, scheint mir, hättest Du über jeden Vorfall reden können; seine Anteilnahme ist vielleicht nicht so groß, wie es jene der Mutter wäre, aber desto leichter kann man Rat, und wenn nicht das, so Beruhigung von ihm erhalten. Aber er ist ja gewiß zuhause, Du schreibst ja, dass Du die Eltern belügen mußt. Wäre vielleicht noch eine Reise nach Dresden nötig, die ich ebensogut wie Du besorgen könnte und die ich mit Freuden machen würde, da ich annehme, dass Du zum zweitenmal schwerer von zuhause fortkämest? Aber ich bohre vielleicht durch solche Fragen mehr in Deinem Leid herum, als dass ich es beruhige. Aber ich kann nicht anders; ich habe allmählich alle Menschen aus den Augen verloren, sehe nur Dich und Du leidest so.

Franz


Letzte Änderung: 10.6.2016werner.haas@univie.ac.at